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Berlin: Europawahl macht Berlin zur geteilten Stadt

Die Europawahl hat Berlin erneut in zwei Hälften geteilt: In elf Westbezirken ist die CDU stärkste politische Kraft, in allen Ostbezirken hat die PDS die Nase vorn, nur in Kreuzberg sind die Grünen mit 34,4 Prozent der Stimmen eindeutiger Wahlsieger. Die Sozialdemokraten müssen sich in beiden Stadthälften jeweils mit dem zweiten Platz begnügen.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Die Europawahl hat Berlin erneut in zwei Hälften geteilt: In elf Westbezirken ist die CDU stärkste politische Kraft, in allen Ostbezirken hat die PDS die Nase vorn, nur in Kreuzberg sind die Grünen mit 34,4 Prozent der Stimmen eindeutiger Wahlsieger. Die Sozialdemokraten müssen sich in beiden Stadthälften jeweils mit dem zweiten Platz begnügen. Die FDP hatte in keinem Bezirk eine Chance, die Fünfprozenthürde zu überspringen und blieb zum ersten Mal auch im Westteil Berlins hinter der PDS zurück. Die "Partei der Nichtwähler" lag aber mit großem Abstand an erster Stelle: Von den 2,43 Millionen Berliner Wahlberechtigten gingen nur 970 279 zur Wahl.

Das waren rund eine Million weniger als bei der Bundestagswahl 1998. Im Ostteil Berlins betrug die Wahlbeteiligung nur 35,2 Prozent, im Westteil waren es 43 Prozent. Die siegreiche CDU bekam knapp 130 000 Wählerstimmen weniger als im vergangenen Oktober, die Berliner SPD verlor etwa eine halbe Million Wähler, PDS und Grüne jeweils rund 100 000. Die Wählerschaft der FDP schrumpfte im Vergleich zur Bundestagswahl von rund 48 000 auf 23 000. 60,1 Prozent der Wahlberechtigten gingen nicht zur Europawahl, nur 13,8 Prozent der Wahlberechtigten wählten die CDU, 10,5 Prozent die SPD, die ihre Anhängerschaft nicht mobilisieren konnte.

Das zeigte sich auch am Wahlergebnis. Im Vergleich zur Europawahl 1994 und zur Bundestagswahl 1998 konnte sich die CDU deutlich und die PDS leicht verbessern. Die PDS schnitt auch in Relation zur Abgeordnetenhauswahl 1995 besser ab. In sechs Ost-Bezirken lag ihr Stimmenanteil nach der Wahl am Sonntag über 40 Prozent, in den übrigen Ostbezirken weit über 30 Prozent. Währenddessen gelang es der CDU, in sieben West-Bezirken die 40-Prozentmarke zu überspringen und in Tempelhof mit 51,1 Prozent sogar die absolute Mehrheit zu erringen. In allen anderen Westbezirken lag sie über 30 Prozent.

Die SPD konnte sich im Vergleich zur Abgeordnetenhauswahl 1995, als ihr Wähleranteil mit 23,7 Prozent einen historischen Tiefstand erreichte, geringfügig erholen, aber den Sozialdemokraten gelang es selbst in ihrem "Traditionsbezirk" Wedding nicht, vor der CDU stärkste Partei zu werden. Nur in Wedding, Charlottenburg, Neukölln und Reinickendorf kam die SPD über 30 Prozent.

Die Grünen erzielten in neun West- und drei Ostbezirken zweistellige Wahlergebnisse und schnitten damit besser ab als bei der letzten Bundestagswahl, aber geringfügig schlechter als bei der Europawahl 1994 und der Abgeordnetenhauswahl 1995. Kreuzberg, Schöneberg, Tiergarten und Prenzlauer Berg entwickeln sich - mit Stimmenanteilen über 20 Prozent - zu stabilen Hochburgen der Grünen. Im den Innenstadtregionen nähern sich, ost-westübergreifend, die Wahlergebnisse von PDS und Grünen immer mehr den Stimmenanteilen der Koalitionsparteien CDU und SPD an.

Der Anteil der Briefwähler erreichte bei dieser Europawahl einen Höchststand von 18,7 Prozent. Vor fünf Jahren machten nur 13,6 Prozent der Wähler von der Briefwahl Gebrauch. Möglicherweise hat die CDU auch von diesem Trend profitiert. Im Vorfeld der Wahl hätten die Christdemokraten systematisch und mit großem Aufwand um Briefwähler geworben, bestätigte CDU-Generalsekretär Volker Liepelt.

Im Vergleich zum Bundesergebnis der Europawahl blieben sowohl die CDU (minus 13,7 Prozent) als auch die SPD (minus vier Prozent) in Berlin deutlich zurück. Diese Differenzen erklären sich aber weitgehend aus dem gespaltenen Wählerverhalten im Ost- und Westteil der Stadt. In Relation zu den jeweiligen Wahlergebnissen in Ost- und Westdeutschland weichen die CDU- und SPD-Ergebnisse nicht wesentlich vom Durchschnitt ab. Dies gilt nicht für die PDS und die Grünen: Diese Parteien schneiden in beiden Stadthälften besser ab als im Vergleich zu Ost- bzw. Westdeutschland.

In Berlin beteiligten sich 20 Parteien an der Europawahl, aber mit Ausnahme der vier Abgeordnetenhausparteien scheiterten alle an der Fünfprozentklausel. Die Freien Demokraten blieben mit 2,4 Prozent hinter den Ergebnissen der Bundestagswahl, der Abgeordnetenhauswahl 1995 und der Europawahl 1994 zurück. Die rechtslastigen Republikaner kamen auf 1,9 Prozent, bei der vorherigen Europawahl waren es noch 3,3 Prozent Stimmanteile. Die rechtsextremistische NPD blieb bei 0,7 Prozent der Wählerstimmen stecken. Die Grauen Panther und die Tierschutzpartei erreichten ein Prozent der Stimmen, alle anderen Parteien blieben unter dieser Schwelle.

Rund 23 000 ehrenamtliche Helfer und 4000 Polizeibeamte haben am Wahlsonntag dafür gesorgt, daß die Europawahl in Berlin fast reibungslos über die Bühne ging. Das Statistische Landesamt stellt die Wahlergebnisse öffentlich zur Verfügung: Im Internet unter www.statistik.de/wahlen , als CD-ROM oder gedruckte Broschüre.

KOMMENTAR

Für Rot-Grün ist keine Mehrheit in Sicht

Es stimmt nicht, daß die niedrige Wahlbeteiligung am Sonntag irreguläre Verhältnisse geschaffen hat, die den Wahlgang entwertet und als Testwahl für die Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober untauglich macht. Wer jetzt nach dummen Ausreden sucht, verhält sich wie jener Fußballtrainer, der nach verlorenem Spiel über den eirigen Ball oder den glitschigen Rasen jammert. Das Europawahlergebnis ist fast identisch mit aktuellen Meinungsumfragen zur Abgeordnetenhauswahl und schließt plausibel an die Parlamentswahl 1995 an

Die CDU fiel geringfügig auf 35 Prozent ab, die SPD robbte sich vergeblich an die 30-Prozentmarke heran, die PDS blieb im Ostteil stärkste und in Gesamt-Berlin drittstärkste politische Kraft. Den Grünen ist es gelungen, ihre Klientel im alternativen, aber auch im städtisch-bürgerlichen Wählerspektrum zu halten. Und beide Oppositionsparteien nähern sich im innerstädtischen Bereich von Wahl zu Wahl den Ergebnissen der "großen" Parteien CDU und SPD an.

Die Europawahl hat also bestätigt, daß das Wahlverhalten der Berliner keineswegs sprunghaft und unkalkulierbar ist. Im Gegenteil - es folgt klaren Trends. Die SPD kann demzufolge nicht ernsthaft damit rechnen, bei der Landtagswahl im Herbst stärkste Partei zu werden und mit Walter Momper den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Alle traditionelle Hochburgen der Sozialdemokraten sind längst geschliffen, auf der Suche nach neuen Wählern bewegt sich die SPD - ungeschützt und ungeschickt - in vermintem Gelände.

Die Union wiederum hat gute Chancen, mit dem Regierungs- und CDU-Landeschef Eberhard Diepgen über 1999 hinaus weiter regieren zu können. Ein Stimmenanteil um die 35 Prozent dürfte - trotz des Koalitionsfrustes und der Verschleißerscheinungen als langjährige Regierungspartei - auch bei der Abgeordnetenhauswahl erreichbar sein. Die östliche City bleibt zwar auf absehbare Zeit CDU-Diaspora, aber das konservativ-bürgerliche West-Berlin ist den Christdemokraten sicher und es könnte der CDU auf Dauer sogar gelingen, in den Randbezirken Ost-Berlins den Mittelstand und Teile der Arbeitnehmerschaft an sich zu binden. Eine solche Strategie brachte in den 70er und 80er Jahren im alten Westen gute Erfolge.

Ungeachtet der Zerreißprobe im Kosovo-Konflikt und trotz der schwierigen Rolle als Teil der Bundesregierung können sich die Grünen in Berlin auf ihr Wählerreservoir in den urbanen Regionen der Stadt verlassen, und zwar in beiden Teilen der Stadt. Der "ferne Osten" bricht den Grünen aber fast völlig weg, der selbstbewußte, übermächtige Konkurrent PDS nutzt dort seine Heimvorteile gnadenlos aus. Der PDS gelang es bei dieser Wahl erneut, ihr Wählerpotential zu motivieren und zu mobilisieren. Besser noch als der CDU mit ihrem Konzept der "Denkzettelwahl".

In Kreuzberg, Wedding und Schöneberg konnte die PDS sogar in die Phalanx der "West-Parteien" einbrechen. In Kreuzberg hat die Partei auch bei höherer Wahlbeteiligung eine Chance, am 10. Oktober erstmals die Fünfprozentmarke in einem Westbezirk zu überspringen. Und das bedeutet für Rot-Grün: In Berlin wird es künftig eher schwieriger, eine Wählermehrheit zu finden. ULRICH ZAWATKA-GERLACH

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