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Langzeitbeobachtung. Die Kinder auf dem Foto waren noch nicht geboren, da stand das Rad in der Lützowstraße schon da. Im Juli 2011 schritt das Ordnungsamt schließlich ein und hängte eine Warnung an den Rahmen. Das Rad werde sonst abgeholt, drohte die Behörde. Tja, im April 2013 ist der Warnzettel weg – und das Fahrrad noch immer da.

© Thilo Rückeis

Fahrradleichen in Berlin: Das Schrottrad von Laterne 35

Festgekettet, verrostet, ohne Luft im Reifen. Sie sind einfach überall: Fahrradleichen. Doch so leicht entfernen lassen sie sich nicht. Die Behörden stecken in einem Dilemma.

Wie viele es sind, weiß niemand, aber sie sind einfach überall. Vor allem an Bahnhöfen ballen sie sich gerne: Schrottfahrräder. Keine Luft mehr, der Sattel geklaut, die Kette rostig und um die Räder wuchert bereits das Unkraut. Klarer Fall, die Leiche kann weg. Denn sie blockiert einen Fahrradständer und verschandelt die Umgebung. Doch so klar ist der Fall – und vor allem die Rechtslage – leider nicht.

Das Abschließen eines Fahrrades signalisiert grundsätzlich, dass es unter „Eigentumsvorbehalt“ steht und weiter benutzt werden soll – unabhängig von der relativen Funktionstüchtigkeit. Werden die Schlösser also gewaltsam geöffnet und somit zerstört, um das Fahrrad zu entfernen, besteht die Gefahr, dass das als Diebstahl und Sachbeschädigung gewertet wird. In diesem Dilemma steckt nicht nur der Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Dort heißt es: „Mögliche Verurteilungen und Schadensersatzforderungen könnten die Folge sein.“ Letztlich ist es nicht verboten, ein defektes Rad auf der Straße abzustellen und dann acht Wochen in den Urlaub zu fliegen.

In gewisser Weise Langzeiturlauber müsste demnach ein Mann sein, der sein Fahrrad in der Lützowstraße in Tiergarten angeschlossen hat. An Laterne 35, das ist bereits bürokratisch korrekt erfasst. Denn das Herrenrad ist dort seit mehreren Jahren angekettet. Das bekam einst auch das Ordnungsamt mit und hängte einen gelben Punkt mit einem Kabelbinder an die Stange. Das war am 7. Juli 2011. Autofahrer kennen diese „Aufforderung zur Beseitigung“ in der Variante als roter Punkt, meist auf die Frontscheibe geklebt. „Bei Nichtbeachtung werden wir das Fahrrad bei Fristablauf kostenpflichtig entfernen“, heißt es im Fettdruck auf dem gelben Punkt.

Heute, bald zwei Jahre später, steht dieses Herrenrad noch immer an Laterne 35 in der Lützowstraße. Der gelbe Punkt ist abgefallen oder gestohlen, das Rad rostet also weiter vor sich hin.

Der dazu schriftlich befragte Leiter des Ordnungsamtes teilt Tage später mit, dass „wegen der derzeitigen Personalsituation“ keine sofortige Antwort möglich sei. Nach neun Tagen kommt schließlich die Antwort, dass der Bezirk Mitte im Vorjahr 346 Räder an die BSR meldete. Allerdings würden die gelben Punkte gern von unbefugter Hand abgerissen, „was die Arbeit der BSR erschwert“, wie Harald Strehlow, Leiter des Ordnungsamtes sagte. Unklar bleibt, ob dies oder der Personalmangel die Beseitigung des Rades an Laterne 35 behindert. Also steht es da weiter. Zumal der Besitzer ja wirklich ein Langzeiturlauber sein könnte.

Den Mitarbeitern des Ordnungsamtes obliegt die schwierige Aufgabe, Fahrräder als erkennbar funktionsuntüchtig einzustufen, Räder, „von denen vernünftigerweise nicht angenommen werden kann, dass sie sich noch in Gebrauch befinden, der Eigentümer also sein Eigentumsrecht aufgegeben hat“. Und deswegen werden die Ordnungsämter nicht gerade häufig tätig. Zwischen 100 und 300 Räder haben die Bezirke im vergangenen Jahr jeweils beseitigt.

Die Identifikation eines Fahrrads als Leiche ist nicht einfach.

Charlottenburg-Wilmersdorf liegt mit 142 Rädern ziemlich in der Mitte dieser Statistik. Die BSR schreitet zur Tat, wenn das Bezirksamt mindestens drei Wochen zuvor den gelben Punkt angebracht hat. Um das kostenpflichtig durchzusetzen, sagt Marc Schulte (SPD), zuständiger Stadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf, bedarf es eines glücklichen Idealfalls: Der Eigentümer kommt zufällig genau in der Minute vorbei, in der ein Ordnungsamtler zum Bolzenschneider greift, und outet sich als Besitzer. Das sei aber bislang noch nie vorgekommen.

Dafür kann Stadtrat Schulte schöne Beispiele nennen, warum die Identifikation eines Fahrrads als Leiche nicht einfach ist. So habe sich mal eine Bezirksverordnete beschwert, dass an ihrer Bushaltestelle ein Schrotthaufen angekettet sei. Also klebte das Ordnungsamt einen gelben Punkt an den Rahmen. Bereit für den Müll. Wenig später rief nur plötzlich ein empörter Mann im Bezirksamt an und schimpfte drauf los: „Mein schönes Rad, so eine Frechheit.“ Es stellte sich heraus, dass ein Charlottenburger täglich mit dem alten Drahtesel zur Bushaltestelle radelte, um mit der BVG weiterzufahren. Und abends retour, Park & Ride mit dem Bike also.

Den zweiten Fall hat Schulte selbst angezettelt. Ausgerechnet direkt vor dem Rathaus Charlottenburg stand ein verrostetes Rad, „peinlich war das“, sagt der Stadtrat. „Vier Wochen habe ich das beobachtet.“ Beim Ordnungsamt bestellte Schulte einen gelben Punkt. Das wollte erst nicht, weil das Rad noch „fahrtauglich“ sei. Doch der Chef setzte sich durch. Einen Tag nach dem gelben Punkt war das Rad verschwunden, erinnert sich der Bezirkspolitiker – es hatte offensichtlich doch noch einen Eigentümer.

Der Bezirk Neukölln hatte noch vor drei Jahren den Schrott eingesammelt und lag mit 2650 abgeräumten Rädern ganz oben in der Putz-Statistik. Doch im vorigen Jahr waren es nur noch 140. 2010 habe man im gesamten Bezirk mit aller Kraft alles eingesammelt, was sich angesammelt hatte, heißt es im Ordnungsamt. Danach sei die aus einer besonders aktiven Mitarbeiterin bestehende „Soko“ wieder aufgelöst worden. Und das sieht man: Direkt vor dem Rathaus rosten Dutzende Radleichen wieder vor sich hin.

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