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Fahrschule: Berliner Irrfahrt

Immer wieder höchste Schadensklasse: Die hauptstädtischen Autofahrer fallen dadurch auf, dass sie gar nicht Auto fahren können. Fahrlehrer Bungs ahnt, warum das so ist.

Die Frau neben Bungs rackert. Strapaziert Lenkrad und Pedale, um in eine Parklücke zu kommen. „Der da kann warten“, sagt Bungs, „der hat Geduld.“ Aber der da wartet nicht. Er hupt und hupt und rollt heran. Die Frau sieht das Auto im Rückspiegel größer werden. „Was heute der Audi ist, war in den 60ern der BMW“, sagt Bungs: „Bedrängen. Meckern. Weiterrasen.“

Die flotten Sprüche, die er macht, hat er unterwegs gefunden. Sie haben seine Fahrbahn gekreuzt, sie haben ihn überholt und geschnitten, sie haben ihm die Vorfahrt genommen. Bungs ist Fahrlehrer. Er holt ein Plastikauto aus dem Handschuhfach, erklärt die Lenkung im Rückwärtsgang. Es ist mal wieder ein schöner Tag. Der Audi jault auf, drängt am Fahrschulauto vorbei, rast davon. „Na klar“, sagt Bungs, „der hat’n Spoiler.“

Berlins Autofahrer fallen dadurch auf, dass sie gar nicht Auto fahren können. Im Regionalklassenranking für Kfz-Versicherungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft haben sie auch 2010 ihren Platz in der teuersten Schadensklasse behauptet und viele Autobesitzer, die dieser Tage ihre Kfz-Versicherungsrechnung auseinanderfalten, blicken auf gestiegene Beiträge. Es werden viele teure Unfälle gemacht in diesem großen, breiten Berlin, mit seinen langen, geraden, mehrspurigen Straßen, auf denen viele schnell fahren, wild und risikoreich.

Und es ist nicht nur das. Schon vor Jahren kam es Joachim Bungs seltsam vor, dass die Anzahl bestandener Fahrprüfungen in der Stadt schlagartig stieg. Er ist im Fahrlehrerverband. Die Kollegen dort waren genauso misstrauisch wie er. Sie lancierten die Bedenken an die Prüfstellenleitung. Es geschah nichts. Der Verband ließ nicht locker, bis die Stadt eine Arbeitsgruppe gründete, die fortan Berliner Führerscheinbesitzer prüfte.

Von knapp 3700 Autofahrern, die dabei beweisen sollten, dass sie Verkehrsregeln kennen und ihr Fahrzeug beherrschen, haben gut 2150 versagt beziehungsweise den Führerschein gleich freiwillig abgegeben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Summen werden genannt. Für 1500 bis 2000 Euro sei das Zertifikat über eine bestandene Fahrprüfung zu haben, so viel kostet in etwa auch ein vorschriftsmäßiger Führerschein, aber der dauert – manchen zu lange. Von einem Netzwerk aus Mittelsmännern, bestechlichen Fahrlehrern und Prüfern ist die Rede. Auch wenn Verkehrssünder medizinisch-psychologische Gutachten brauchen, ist auf die Clique Verlass.

Bereits vor zwei Jahren wurde in Niedersachsen gegen Fahrlehrer, Prüfer, einen Optiker und einen Mann von der Ersten Hilfe ermittelt, weil rund 50 Fußballprofis Führerscheine gekauft haben sollen. Der damalige Bremer Spieler Diego hat Berichten zufolge zumindest gefragt, ob es gar nicht notwendig sei, Unterricht in Theorie und Praxis zu nehmen. Notwendig wären nur 2900 Euro in bar, soll man ihm geantwortet haben. Die Sache sah nach Promiservice aus. In Berlin scheint sie etwas für Jedermann zu sein. So der Verdacht.

Berliner, die Autofahren lernen wollen, reißen mit Schwung die gläserne Tür an der Leibnizstraße auf und treten ein. Oder sie schieben sich zwischen Tür und Angel in die Fahrschule. Sie stellen sich so dicht vor den Schreibtisch, dass sie in den Kalender sehen können. Und während Marion Bungs nach freien Terminen sucht, greifen sie mehrmals in die Bonbonschale. Oder sie streifen die Bonbonschale nur mit Blicken. Manch einer nickt devot, als trüge Frau Bungs nicht farbenfreudige Blusen sondern einen weißen Kittel. Als würde sie Zahnarzttermine verteilen. „Daran, wie einer hier reinkommt“, sagt ihr Mann Joachim, „sehe ich, wie er Auto fahren wird.“

Die „Fahrschule Bungs“ in Charlottenburg ist die älteste Berlins. Vater Bungs gründete sie 1928. Er hängte in einer Weinstube Plakate auf, bestellte vier Schoppen, für jeden Schüler einen. Das war der theoretische Unterricht. Wer gut schrauben konnte und bei der Prüfungsfahrt nicht auf der Strecke blieb, bestand. Seit 1932 unterrichtete Vater Bungs im Erkerzimmer seiner Wohnung. Leibnizstraße 21, erster Stock. 1934 trat die Straßenverkehrsordnung in Kraft. 1941 kam Sohn Joachim hier zur Welt. Berlin war zerbombt, als der Junge ins Geschäft einstieg, indem er an der Wohnungstür Schülern aus den Jacken half. Der Vater gab im Kübelwagen Fahrstunden. Manchmal stand er mit dem Sohn am Erkerfenster. Sie blickten auf ein Auto, das im Lichtkegel einer Laterne an der Leibnizstraße parkte. Stieg jemand ein, sagte der Vater: „Den kenne ich, der ist ein netter Mann. Aber wenn er losfährt, lässt er seinen Charakter unter der Laterne.“ Was er damit meinte, erfuhr Joachim Bungs erst Jahre später.

Er wurde Dreher, arbeitete in dunklen Werkshallen. Am Feierabend saß er im Beiwagen des Motorrads, auf dem der Vater unterrichtete. Als Gewicht. Er saß dort auch, als die fesche, dunkelhaarige Marion, Spross einer Obst- und Gemüsehändlerdynastie, Motorradfahren lernte. Einmal war er mit ihr allein unterwegs. Mitten auf der Kreuzung ging die Maschine aus. Sie versuchte, das schwere Gefährt mitsamt Beiwagengewicht in Schwung zu bringen. „Mutter, mach hinne!“, rief der Polizist, der den Verkehr regelte. Bungs duckte sich in den Beiwagen bis der Motor wieder knatterte. Doch Marion fuhr nicht. „Eins kann ick Ihnen sagen“, schrie sie: „Mutter will ick erst noch werden!“ 1964 haben sie geheiratet.

Im Jahr darauf wurde er Fahrlehrer. Seine Frau erledigte fortan in der Fahrschule das Organisatorische. Es war die Zeit, da mit dem Satz „Mein Freund hat ein Auto“ Liebesbeziehungen hinreichend begründet waren. Bungs ließ Einparken üben in einer Stadt, die ein einziger freier Parkplatz war. Er war unterwegs, als die Autos luxuriöser und sportlicher wurden und die Deutschen sich die Meinung zulegten, dass, wer viel Geld ausgegeben hat, freie Fahrt haben sollte. Er erlebte, wie das Auto zum Gebrauchsgegenstand wurde. Wie der Respekt vorm Auto sank.

In den Wohlstandsjahren kam die Angewohnheit auf, 18-Jährigen das Geld für den Führerschein zu schenken. Die Jugend beherrschte das Fahrzeug schnell. Aber was wusste sie über eigene Fähigkeiten? Darüber, wie man negative Eigenschaften zurückhält? Bungs, der sich bislang für Technik und Regeln zuständig gefühlt hatte, erweiterte das Ausbildungsprogramm. „Autofahren ist Sozialverhalten“, sagt er.

Eine seiner Schülerinnen ist Blumenbinderin. Hat einen eigenen Laden und nach 17 Jahren den Ehemann rausgeschmissen. Sie will nun selbst fahren. Sie ist 35, unter jenen, mit denen Bungs durch die Stadt kurvt, eine Alte. „Lass die Arme fliegen!“, ruft er in der Kurve. „Lenken ist gut gegen Orangenhaut!“ Die Frau winkt Leuten zu, die bei ihr einkaufen, entdeckt das Haus eines Stammkunden, niedliche Hunde, komische Werbeplakate, freut sich über Fassadenfarben. Immer wieder nimmt das Handy in der Tasche Blumenbestellungen per SMS entgegen. „Du bist irre hellwach“, sagt Bungs, der die Anreden so beliebig wechselt wie andere die Fahrspur, „aber zum Fahren müssen Sie erwachsen werden.“

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1972 übernahm er die Fahrschule vom Vater. Der Verkehr in Berlin wurde immer dichter, der Fahrstil immer mehr Multikulti, das Tempo immer schneller, die Stadtunfälle immer folgenschwerer. Er stellte fest: Was der Vater einst über den Charakter, der nicht mit ins Auto steigt, gesagt hatte, stimmt. „Im Auto sind Menschen anonym. Sie sind der schwarze Golf, der silberne Opel. Sie müssen niemandem ins Gesicht sehen, keinen fragenden Blick ertragen.“ Bungs hat sich auch eine Erkerwahrheit zugelegt. Sie klingt moderner. Er verbreitet sie im Theorieunterricht: An der Wartelinie in der Post steht eine lange Schlange. Der nächste Bitte!, ruft es. Doch die Oma ganz vorn reagiert nicht. Sie wühlt in der Tasche. Da kommt ein Mann von ganz hinten, zieht an allen Wartenden vorbei, tritt an den freien Schalter. „Niemand würde das in der Post wagen“, sagt Bungs, „aber auf der Straße ist es Gang und Gäbe.“ Frauen, sagt er auch, seien die besseren Fahrer. Sie hätten die Schutzfunktion verinnerlicht, „Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme“, sagt Bungs, während Männer Kriege führten.

Nach dem Mauerfall kauften gut gelaunte Ossis auf der Wilmersdorfer Straße ein, meldeten sich dann um die Ecke in der Leibnizstraße gleich noch bei der Fahrschule an. Berlin bekam aus dem Ostteil der Stadt aber auch zahllose Fahrlehrer dazu. Ein paar Jahre hatte die Branche kräftig zu tun, dann machte sich die demografische Entwicklung bemerkbar. Während deutschen Fahrlehrern vor 20 Jahren 1,2 Millionen 18-Jährige als potenzielle Kunden in Aussicht standen, sind es heute nur noch 800 000. Und nicht mehr jeder 18-Jährige kann und will sich die Fahrschule leisten. Im Osten, in Berlin, in westdeutschen Ballungsgebieten gibt es zu viele Fahrschulen für zu wenig Schüler.

Fahrlehrer unter Existenzdruck. Prüfer, die Allmacht über den Erfolg haben. Ein Wettbewerb, in dem nicht mehr Qualität entscheidet, sondern der Preis. Die Hauptstadt bietet beste Arbeitsbedingungen für Gauner. Dass bei Fahrprüfungen hin und wieder ein Auge zugedrückt wird, ließ sich nie verhindern. Dass hier und da Banknoten rübergeschoben wurden, war stets wahrscheinlich. In den vergangenen Jahren jedoch registrierte der Berliner Fahrlehrerverband, dass sich das Betrügen professionalisiert.

Bei Theorieprüfungen, die in der Großstadt in Massenabfertigung absolviert werden, bleibt oft unbemerkt, dass Schüler beim Unterricht fehlen. Mit Abhörtechnik, Kameras und Funkgeräten werden Aufgaben vom Prüfraum nach draußen übertragen. Ein Auto steht vorm Haus, drin sitzt jemand, der die Lösung kennt. Ein Schild verbietet zwar Handys in Prüfräumen, Leibesvisitationen jedoch sind in den Prüfstellen nicht erlaubt. Ortungsgeräte können nicht eingesetzt werden, weil die auf alle Handys im Umkreis reagieren. Immer wieder kommt es vor, dass sich in Theorieprüfungen eines durch Klingeln verrät. Der Schüler verlässt unbehelligt den Raum, darf nicht festgehalten und zur Rechenschaft gezogen werden. Auch der Versuch, Störsender zu installieren, ist gescheitert. Die zuständige Bundesanstalt hat sie nicht genehmigt. Die Geräte stören allumfassend und in der Nähe des TÜV-Gebäudes befindet sich der Flughafen Tegel.

Rund 1500 Fragen enthält der Bundesfragenkatalog zur Verkehrstheorie. Sie werden gemischt und zu 40 Standardprüfbögen zusammengestellt. Peter Glowalla, Vorsitzender des Berliner Fahrlehrerverbandes sagt: „Der Markt, auf dem die Schablonen für die Lösungen vertrieben werden, ist gigantisch.“

Schon vor einigen Jahren standen korrupte Fahrlehrer und Prüfer vor Gericht. Anders als andere Betrugsgeschäfte bringt der Führerscheinhandel Menschen unmittelbar in Gefahr. Straßenverkehr ist eine öffentliche Angelegenheit. Deshalb haben Fahrschulen diverse Verordnungen zu beachten und werden alle zwei Jahre vom Staat kontrolliert.

Im Jahr 2008 hat Joachim Bungs seine Fahrschule der Tochter Susanne und dem Schwiegersohn übergeben. Seine Frau führt weiter die Geschäfte, er unterrichtet. Empfängt Punktesammler zu sogenannten Abbauseminaren. Sie sind wiederholt gerast, haben auf der Autobahn gedrängelt, wiederholt rote Ampeln ignoriert. Er spricht zu ihnen, als wäre dem Geschehen im Straßenverkehr mit guten Argumenten beizukommen: über Sicherheitsabstände und ewiges Linksfahren, übers Spurwechseln und Rasen. „Bringt nichts“, sagt er. „Außer, dass man an der nächsten Ampel länger steht.“ Er glaubt daran. Damit auch andere dran glauben, hat er es getestet. Ist mit einem Freund von Hamburg aus um die Wette gefahren. Der Freund brav nach Vorschrift, Bungs immer ein bisschen über dem Erlaubten und bei freier Fahrt volle Pulle. Er war zehn Minuten eher in Berlin. Die Punktesammler nicken mit beeindruckten Gesichtern. Was sollen sie hier im Abbauseminar auch anderes tun.

Bungs trägt grelle Pullover in Pink oder Grün. Man erkennt ihn schon von Weitem hinter der Frontscheibe. Er ist eine Art Verkehrszeichen. „Wenn der ’n bissel was in der Birne hat, lässt er dich rein“, sagt er zur Fahrschülerin, die erwachsen werden soll und eben versucht, die Spur zu wechseln. „Aber wir denken immer an die, die nix in der Birne haben.“

Nur der Schmerz lässt Joachim Bungs verstummen. 45 Jahre Autositz machen seinen Gelenken zu schaffen, er merkt das, wenn er nach einer Übungsstunde aussteigt. Und nachts. Er schläft immer noch über der Fahrschule in dem Zimmer, in dem er geboren wurde. Wenn seine Frau und er am Wochenende einen Ausflug machen, streiten sie, wer ans Lenkrad darf. Leider war er mal Pfadfinder und kann gut Karte lesen, ist also auch privat der Mann für den Beifahrersitz.

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