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Junge mit Schulranzen. Der Fall eines Schülers, in dem nun ein Urteil erging, ist besonders krass. Doch es gibt in Berlin mehr als 3500 hartnäckige Schwänzer.

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Fast 1000 Fehltage in der Schulzeit: Die Zukunft geschwänzt

Ein Junge aus Berlin-Reinickendorf fehlt fast 1000 Mal in der Schule, ihm droht nun eine Hartz-IV-Karriere. Die Mutter wird deshalb zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Hartnäckige Schulschwänzer sind in Berlin keine Seltenheit.

„Was mit Autos“ wolle er am liebsten einmal beruflich machen, sagt der 17-Jährige nach der Gerichtsverhandlung. Er lächelt freundlich und ein bisschen schüchtern. Auf die Frage, ob er gern noch einmal in die Schule gehen würde, nickt er und murmelt „doch, ja, schon“, dann schweigt er wieder. Auch vor Gericht hat er geschwiegen, genauso wie seine Mutter, die Angeklagte, die schließlich vom Amtsgericht Tiergarten zu neun Monaten Haft, ausgesetzt zu zwei Jahren Bewährung, verurteilt wurde – wegen Verletzung der Fürsorgepflicht.

Ob seine beruflichen Träume je in Erfüllung gehen können, ist mehr als fraglich. Denn seit seinem ersten Schultag, damals noch in Rheinland-Pfalz, ist der Junge kaum im Unterricht erschienen. Mehr als fünfzig Prozent der Zeit fehlte er. Seit 2010 lebt die Familie in Reinickendorf, auch hier ging er kaum zur Schule. Das letzte Mal war er zwei Tage im Februar 2012 da, nachdem die Polizei ihn von zu Hause abgeholt und zur Schule gebracht hatte. Zuvor gab es zahlreiche Bußgeldbescheide, Gesprächsversuche und einmal einen Besuch vom sozialpädagogischen Dienst. Inzwischen ist der Junge nicht mehr schulpflichtig, weil zehn Jahre seit der Einschulung vergangen sind. Das Verfahren gegen die Mutter wird trotzdem zu Ende geführt.

„Sie hätten einen feinen Jungen haben können“, sagt die Richterin bei der Urteilsbegründung. „Doch jetzt hat er eigentlich nur noch eine Chance auf eine Hartz-IV-Karriere“. Ihm fehlten grundlegende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen. Zugute hält sie der Mutter, dass der 17-jährige noch nie strafrechtlich aufgefallen ist. „Er hätte ja auch ein Klaukind werden können“.

Mein rechter, rechter Platz ist frei. Der Fall eines Schülers, in dem nun ein Urteil erging, ist besonders krass. Doch es gibt in Berlin mehr als 3500 hartnäckige Schwänzer.
Mein rechter, rechter Platz ist frei. Der Fall eines Schülers, in dem nun ein Urteil erging, ist besonders krass. Doch es gibt in Berlin mehr als 3500 hartnäckige Schwänzer.

© picture alliance / dpa

Bedauerlich sei es, was mit dem Jungen passiert sei, sagt der Schulleiter des Förderzentrums, an dem er angemeldet war. Er sei davon überzeugt, dass der Junge ohne Probleme einen berufsorientierenden Abschluss hätte bestehen können. Tests hätten ergeben, dass er intelligent sei, ein IQ von 106 sei ermittelt worden. Er habe aber große sprachliche Defizite. „Er war freundlich, aber sehr müde und konnte aufgrund seiner Defizite nicht lernen“, sagt der Pädagoge über die wenigen Male, die er ihn im Unterricht erlebt hatte. Warum er nicht zur Schule gegangen ist, ließ sich vor Gericht nicht klären. Die Mutter habe gesagt, dass er krank sei, doch ein Attest habe sie nicht vorgelegt, sagt der Lehrer. „Alles Lüge“, sagt die Mutter nach der Verhandlung in Richtung der Lehrer. Die könnten gar nicht wissen, ob ihr Sohn lesen und schreiben kann, weil sie ihn kaum gesehen hätten. Außerdem sei ihr Sohn nierenkrank. Sie will jetzt Krankenhaus-Unterlagen zusammensuchen und in Berufung gehen.

Fünf Kinder hat die 43-jährige Hartz-IV-Empfängerin, die selbst nicht lesen und schreiben kann. Der 17-Jährige ist der jüngste, auch seine 20-jährige Schwester ging offenbar nicht regelmäßig zur Schule.

Es ist ein extremer Einzelfall, hartnäckige Schulschwänzer sind in Berlin aber keine Seltenheit. Über 3500 Schüler in Berlin fehlten im Schuljahr 2012/13 mehr als zehnmal unentschuldigt, rund 630 Schüler davon sogar mehr als 40 Tage. Schon am ersten Fehltag müssen die Lehrer die Eltern informieren. Nach zehn Tagen wird eine Anzeige erstellt und Kontakt zum Jugendamt aufgenommen. Bußgelder oder polizeiliche Zuführungen können folgen. Nach dem Willen der SPD-Fraktion soll es künftig schon nach fünf Fehltagen im Schuljahr eine Anzeige geben. Ein entsprechender Antrag wird demnächst im Bildungsausschuss behandelt.

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