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Berlin: Feste feiern hinter der Sicherheitsschleuse

Die jüdische Familie Lewin geht in die Synagoge, genießt den Sabbat und ist in letzter Zeit vorsichtiger geworden

Die fünfjährige Marie ist verzweifelt. Sie hält ihrer Mutter Mikado-Stäbchen vors Gesicht, und der König fehlt. Der König, das ist das Holzstäbchen mit den vielen schwarzen Streifen, das die meisten Punkte bringt, wenn man es sich angelt. „Dann mal dir einfach einen König“, sagt Hannah Lewin und drückt ihrer Tochter einen schwarzen Filzstift in die Hand. Es muss nicht das Original sein. Auf dem Sofa sitzt das Aupairmädchen und liest Maries Schwestern auf Tschechisch vor. Es ist Donnerstagabend. Bei der jüdischen Familie Lewin läuft „der normale Betrieb“, wie der 44-jährige John sagt.

Es ist nicht einfach, eine „normale“ jüdische Familie zu finden, die die Öffentlichkeit in ihr Wohnzimmer lässt. Viele meinen, früher, ja da seien sie offener gewesen, heute, das heißt seit dem Sommer, seit Möllemann und so, müsse man vorsichtiger sein. Der habe ja Schleusen geöffnet. Und jetzt in der Diele der weiträumigen Charlottenburger Wohnung hat auch John Lewin so seine Zweifel. Früher sei er kämpferischer gewesen und habe offensiv mit vollem Namen Pressearbeit gemacht. Heute fragt er sich, „ob es noch so gut ist, dass Juden so oft in der Zeitung stehen“. Sie sollten sich lieber raushalten, meint er, und für einen Moment scheint es, als wolle er sich unsichtbar machen. Die Lewins heißen also nicht wirklich Lewin, zum einen, weil sie sich vor antisemitischer Hetze fürchten, zum anderen, weil sie Streit mit der Gemeinde scheuen.

Und außerdem, was heißt schon normal? Der Familienvater rückt die Brille zurecht und fragt seine Frau Hannah: Sind wir noch normal? Die 40-jährige Bildhauerin streift sich eine Strähne ihrer schwarzen wuscheligen Haare aus dem Gesicht. Dann fragt sie ihre älteste Tochter: Welche Sprache sprechen die meisten Kinder in deiner Klasse?" „Russisch“, antwortet Jana. Sie geht in die zweite Klasse der jüdischen Grundschule.

60 Prozent der 12000 Gemeindemitglieder sind in den vergangenen zehn Jahren aus Russland eingewandert. Die Lewins sind 1993 nach Berlin gekommen, aus München. John ist in Süddeutschland aufgewachsen, sein Vater hat 1945 einen der berüchtigten Todesmärsche überlebt. Der Todesmarsch hat ihn in den Westen, nach Deutschland gebracht. Hannahs Eltern sind in den 60er Jahren aus Prag nach Deutschland gezogen.

Seit John und Hannah eine Familie sind, gehen sie regelmäßig zur Synagoge, feiern Sabbat und begehen auch die anderen jüdischen Feiertage. Ist das ein traditionelles Leben?, fragt John. Mit dem schwarz-weißen Winterpulli, der schwarzen Hose und dem dunklen Vollbart sieht der Immobilienmakler ein bisschen so aus, als wäre die Studentenzeit erst zwei und noch nicht zwanzig Jahre her. „Jeder legt die Traditionen für sich zurecht.“ Das findet John gut. „Die einen fahren am Sabbat noch nicht mal mit dem Aufzug, die anderen gehen zur Synagoge und danach ins Büro, obwohl man am Sabbat nicht arbeiten soll.“

Hannah und er haben in der Synagoge in der Oranienburger Straße den Gottesdienst mit aufgebaut: „Das Progressivste, was Sie in Deutschland finden“, sagt John. Sie wollen, dass die liberalen Traditionen des deutschen Judentums, die vor 1938 existierten, wieder zum Tragen kommen. „Nach 1945 gab es einen Bruch“, erklärt John, „Juden aus Osteuropa haben die Gemeinden in Deutschland wieder aufgebaut. Das waren keine Intellektuellen.“ Die hätten das Judentum als etwas begriffen, was man in der Schule auswendig lernt, ob man den Sinn der Worte versteht oder nicht.

John erinnert sich, wie sehr ihn die verkrustete Liturgie im Gottesdienst als Kind gelangweilt hat und dass er oft vor der Tür saß. Heute lädt er Musiker in die Synagoge ein. Sie spielen Gitarre, und manchmal gestaltet die Gemeinde den Gottesdienst selbst. Denn wie bei den Mikadostäbchen sei das Wichtigste, dass die Rituale Spaß machen und dass an Sabbat jeder auf seine Art glücklich ist. Bei den Lewins braucht es dazu am Freitagabend, wenn der Sabbat beginnt, einen gedeckten Tisch und ein paar Freunde. Die Kerzen, das Brot, der Wein und die Kinder werden gesegnet. Und dann ist es einfach ein schönes Essen mit Freunden. John kocht gerne frischen Fisch, und das leckere Essen ist ihm allemal ein Verstoß gegen die Regeln wert. Denn weil man ja eigentlich nicht arbeiten darf an Sabbat, darf man auch nicht am Herd stehen und muss Vorgekochtes essen.

Am Samstagvormittag gehen John, Hannah und ihre drei Töchter in die Synagoge. Früher, als sie die in der Joachimstaler Straße besuchten, sind sie gelaufen – weniger aus religiöser Überzeugung, sondern weil sie um die Ecke war. Jetzt fahren sie mit dem Auto nach Mitte – und verstoßen auch wieder gegen die Regeln, die das Benutzen von Maschinen am Sabbat verbieten. Die Inhalte sind ihnen wichtiger als orthodoxe Formen.

Der Freitagnachmittag mit den Vorbereitungen für das Essen und der Samstag mit dem Besuch der Synagoge sind der Familie vorbehalten. John kann sich die Arbeit mittlerweile so einteilen, dass er samstags nicht mehr selbst Wohnungen zeigen muss und freitags ein paar Stunden früher nach Hause kommen kann.

Den heutigen 9. November werden die Lewins verbringen wie jeden Sabbat. Natürlich könnten wir zu irgendwelchen Gedenkveranstaltungen gehen, sagt Hannah, aber da steht man nur rum, und man muss es ja nicht übertreiben. „Natürlich bin ich glücklich über das Wahlergebnis der FDP“, sagt John, „es hat gezeigt, dass man mit Antisemitismus keine Wähler fangen kann.“ Und natürlich müsse man aufpassen, dass man mit der wachsenden Arbeitslosigkeit nicht wieder zum Sündenbock gemacht werde. Aber das gelte ja für Ausländer genauso. Antisemitismus hätten sie bisher „nur offiziell“ mitbekommen, nicht persönlich, sagt Hannah. „Obwohl, erinnerst du dich an unsere Freundin mit ihrem schwarzen jüdischen Kind, die im Sommer keinen Ausflug nach Brandenburg machen wollte“, fragt John. Stimmt, sagt Hannah, aber das Kind ist ja auch schwarz.

Über die Diskussionen um die Straßenumbenennung in Spandau haben sie sich keine großen Gedanken gemacht. „Spandau? Jüdenstraße? Was war da?“, fragt Hannah. John erzählt ihr von den Juden-raus-Rufen, die es bei der Eröffnung der Jüdenstraße gegeben haben soll. „Das sind nicht die Geschichten, die wir in der Zeitung als Erstes lesen. Wir blättern in der Zeitung wie alle anderen auch, und lesen das zuerst, was auf der Seite 1 steht.“

Vieles pralle mittlerweile auch an einem ab, sagt Hannah. Dazu gehören wohl auch die Polizisten, die vor der Schule der Tochter, vor der Synagoge, vor dem koscheren Lebensmittelgeschäft Wache stehen. Hannah schaut überrascht und zuckt mit den Schulter: „Ach ja, stimmt, die Bewachung.“ Die sei mittlerweile so selbstverständlich, „da denkt man gar nicht mehr nach, warum die da stehen.“ Sonst müsste man ja darüber nachdenken, ob man seine Adresse aus dem Telefonbuch nimmt, den Namen wechselt oder aus Deutschland weggehen soll. Das haben die Lewins bisher aber noch nie ernsthaft überlegt.

John fragt sich auch, ob das wirklich sein muss mit den Sicherheitsschleusen. Als er vor zehn Jahren nach Berlin kam, hat er es genossen, dass er damals einfach so ins Gemeindehaus hineinspazieren konnte. Das war anders als in München, wo es damals schon die Sicherheitsschleusen gab. Er bezweifelt, dass man durch noch so viel Aufwand Anschläge verhindern kann. „Dann passiert es eben zehn Meter davor.“ Und wie ist es für die Kinder? Die würden mit den Wachsoldaten groß werden. Die seien für sie ebenso selbstverständlich wie für John und Hannah die Tatsache, dass sie nie Großeltern hatten.

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