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© dpa

Filmdreh in Berlin: Charlie Chaplin kommt aus Reinickendorf

390 Kinder, 22 Nationen und ganz viel Einsatz: Die Filmemacherinnen vom Projekt „Papierkino“ drehen skurrile Streifen mit Grundschülern.

Der Tag beginnt gemütlicher als an einem echten Filmset. Nämlich mit Stuhlkreis und ausgiebigem Händeschütteln: „Guten Tag, Bianca, wie geht es dir?“ – „Mir geht es gut.“ – „Guten Tag Taher, wie geht es dir?“ Die Nachwuchs-Filmemacher haben sichtlich Spaß an der Begrüßungsrunde. „Wisst ihr noch, was wir beim letzten Mal gemacht haben?“, fragen Marie-Ulrike Callenius und Silke Gänger in die Runde. Die Finger fliegen hoch: „Wir haben uns verkleidet!“ Und womit? „Melone!“, ruft einer. Ein anderes Kind erinnert sich an ein besonders schweres Wort: „Schnurrbart!“

Chaplins Stummfilm "Der Zirkus"

Es ist 8.45 Uhr, gerade hat an der Hermann-Schulz-Grundschule in Reinickendorf die zweite Stunde angefangen. Aber heute findet für einige der Drittklässler kein Unterricht statt. Eine wichtigere Aufgabe wartet. Der Stummfilm „Salto Totale“, den die Kinder in den letzten Wochen konzipiert und gedreht haben, soll live vertont werden. Inspiriert wurde das Werk von Charlie Chaplins Stummfilmkomödie „Der Zirkus“ aus dem Jahr 1928. Chaplin-Filme kannten die meisten Schüler, erzählt Klassenlehrer Kamoliddin Bediev, aber ein Drehbuch geschrieben, Kostüme entworfen und Szenen geprobt, das hatte noch keiner von ihnen.

Drei Willkommensklassen für Flüchtlingskinder

390 Kinder besuchen die Hermann-Schulz-Grundschule, sie stammen aus 22 Nationen. In drei Willkommensklassen werden außerdem noch Flüchtlingskinder unterrichtet. Sozialer Brennpunkt, denkt man sofort. Aber die Grundschule tut einiges, um die Probleme abzufedern. Weil viele der Kinder ohne Verpflegung in die Schule kommen, gibt es jeden Tag um 9.30 Uhr kostenloses Frühstück für alle. Toastbrot, Cornflakes, Marmelade, Wurst.

Drehort Schule. Hier übten die Kinder das Stück ein.
Drehort Schule. Hier übten die Kinder das Stück ein.

© Mike Wolff

Doch bevor die kleinen Künstler heute hungrig in die Pause stürmen, wird erst mal das Ergebnis der Dreharbeiten inspiziert. Silke Gänger hat einige Tage im Schnitt gesessen, um aus drei Stunden Material einen siebenminütigen Kurzfilm zu machen. Projektleiterin Callenius schmeißt das Smartboard an. Film ab: Ein kleiner Tramp lugt um eine Häuserecke, dann wackelt er mit Spazierstock und Melone durch die Straßen. Was ist das? Da hängt ja ein Zirkusplakat! Wie aufregend! Theatralisch reißt Metehan alias Charlie Chaplin die Arme hoch, macht große, eckige Bewegungen. Ein schauspielerisches Naturtalent. Die Klassenkameraden winden sich vor Lachen.

„Es ist toll zu sehen, wie selbstbewusst die Kinder durch die Filmprojekte werden“, sagt Gänger. Sie arbeitet sonst fürs Fernsehen, zweimal sind von ihr geschnittene Dokumentarfilme mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Wie Gänger hat sie an der Universität der Künste Visuelle Kommunikation studiert, hat Videoproduktionen realisiert und als Dozentin gearbeitet. Vor zehn Jahren gründete sie das Projekt „Papierkino“, vor vier Jahren stießen die Cutterin Gänger und die Schauspielerin Hanna Essinger dazu, die vor allem für Maske und Kostüme zuständig ist.

Manchmal werden weitere Kollegen eingeladen. Heute ist der Berliner Musiker Stefan Pahlke mit dabei. Wie heißt noch mal das Instrument, das er in der Hand hält? „Trompete?“ Nein. „Saxofon?“ Nein. „Goldenes Dingsdabums“, schlägt Rumyana vor. Das finden alle sehr lustig, so wird die Tuba ab sofort genannt. Pahlke teilt die Instrumente aus. Die Trommeln finden reißenden Absatz, Triangel und Xylofone will anfangs keiner haben. Silke Gänger erklärt, worauf es ankommt: „Ihr müsst schauen, ob es eine leise oder eine laute Szene ist.“ Die Tuba spielt die Melodie, die Kinder sorgen für einen rhythmischen Klangteppich. Und am Ende der Szene, wenn alle anderen verstummt sind, darf die scheue Jura, die erst seit wenigen Wochen in Deutschland ist, den Klöppel laut aufs Becken schlagen.

"Ist das Spucke in der Tuba?"

„Filme drehen ist heute so einfach“, sagt Callenius. Aber das führe eher zu einer ästhetischen Verengung. Selten werden die Möglichkeiten des Mediums voll genutzt. Warum nicht Geräusche selbst produzieren? Oder Trickfilmsequenzen einbauen? Die Bilder dazu werden bei „Papierkino“ von den Kindern gemalt. Callenius und Gänger kommen beide vom Experimentalfilm und können Dutzende Stilmittel anbieten. Auf schräge Ideen kommen die Kinder oft von alleine. Deshalb ist auch Langsamkeit Teil des Konzepts. „An einem der Projekttage haben die Kinder sich nur verkleidet und überlegt, welche Rollen sie gerne spielen würden.“ Am Ende mussten zwei Charlie Chaplins ins Drehbuch eingebaut werden.

Die musikalische Untermalung und die meisten Geräusche sind im Kasten. Eine echte Konzentrationsübung. Drei Stunden lang haben die Kinder im Chor geklatscht, getrommelt und gerasselt. Jeder wollte mal in die Melodica pusten. Und dann musste auch noch die wichtige Frage geklärt werden, warum da Wasser aus der Tuba läuft. „Ist das wirklich keine Spucke?“

Am 18. Juni ist Premiere in der Schulaula. Zu sehen ist „Salto Totale“ auch auf www.papierkino.de.

Lesen Sie mehr im Tagesspiegel: Sybille Volkholz gründete 2005 das Lesepaten-Programm. Jetzt verabschiedet sie sich aus der Projektleitung. Ein Gespräch über Bürgerengagement an Schulen und neue Projekte.

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