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Finanzen: Aufschwung hilft Berlin - aber nicht allen Berlinern

Dank höherer Steuereinnahmen kann die Stadt schon ab 2009 Schulden tilgen. Das ergibt sich aus den Steuerschätzungen. Langzeitarbeitslose finden trotzdem keine Jobs.

Berlin muss ab 2009 keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Das ergibt sich aus der Steuerschätzung, die gestern veröffentlicht wurde. In zwei Jahren werde der Senat "tatsächlich einen Haushalt ohne Neuverschuldung aufstellen können", bestätigte ein Sprecher der Finanzverwaltung. Denn Berlin nimmt jährlich 250 bis 500 Millionen Euro mehr aus Steuern und Länderfinanzausgleich ein als geplant. Ab 2010 kann damit begonnen werden, den riesigen Schuldenberg von 60 Milliarden Euro abzubauen.

Sollte die Wirtschaft weiter boomen, könnte es bis 2020 gelingen, die ersten fünf Milliarden Euro Schulden zu tilgen. Das ist allerdings Zukunftsmusik. Die rot-rote Koalition ist sich aber mit CDU, Grünen und FDP einig, dass der überraschende Geldsegen nicht verpulvert werden darf, sondern in die Senkung der Neuverschuldung gesteckt werden muss. Der Grünen-Haushälter Jochen Esser erinnerte daran, dass die finanzielle Entlastung der Hauptstadt durch die hohen Steuereinnahmen etwa der Summe entspricht, die Berlin beim Bundesverfassungsgericht einklagen wollte.

"Die Entlastung künftiger Generationen muss Vorrang haben, alles andere wäre unsolidarisch", sagte der FDP-Finanzexperte Christoph Meyer gestern. Die Liberalen forderten den Senat auf, mit weiteren Privatisierungen und einem beschleunigten Personalabbau im öffentlichen Dienst die Etatsanierung voranzubringen. "Hauptziel muss sein, so viele Schulden wie möglich zu tilgen, ansonsten droht bei der nächsten Konjunkturdelle die Katastrophe", so der CDU-Haushaltspolitiker Uwe Goetze. Darüber hinaus haben SPD und Linkspartei/PDS beschlossen, dass die öffentlichen Ausgaben langfristig auf dem Stand von 2005 eingefroren werden. Schon in zwei Jahren wird Berlin voraussichtlich weniger staatliche Gelder pro Einwohner ausgeben als Hamburg.

Warum die Hauptstadt auf einen "nationalen Entschuldungspakt" hofft, also eine Entschuldung mit Hilfe von Bund und Ländern auf ein "angemessenes Niveau" - wie der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in der Föderalismuskommission sagte - zeigen folgende Zahlen: Bremen stand 2006 mit einer Pro-Kopf-Verschuldung von 20.500 Euro an der Spitze, gefolgt von Berlin mit 17 700 Euro. Hamburg hatte mit 12 600 Euro schon gehörigem Abstand. Am Ende der Skala finden wir Bayern mit 3300 Euro. Ulrich Zawatka-Gerlach

An den 216.000 Empfängern von Arbeitslosengeld II (ALG II) in Berlin geht der Aufschwung noch vorbei. Sie profitieren kaum davon, dass Berliner Unternehmer verstärkt Mitarbeiter einstellen und die Arbeitsagenturen 38 000 offene Stellen melden. Arbeitsmarktexperten sagen sogar, dass ein Fünftel der ALG-II-Bezieher selbst bei weiter anziehender Konjunktur keine Chancen hat, in einem regulären Beschäftigungsverhältnis wieder Fuß zu fassen. Von dieser Größenordnung geht Johannes Langguth, Jobcenter-Geschäftsführer von Charlottenburg-Wilmersdorf, aus. Die einzige Möglichkeit, diese Menschen zu beschäftigen, sei über den zweiten oder dritten Arbeitsmarkt.

113.000 ALG-II-Empfänger sind langzeitarbeitslos, haben also seit mehr als einem Jahr keinen Job. "Es ist ein gravierendes Problem", sagt Olaf Möller, Sprecher der Regionaldirektion für Arbeit. Derzeit brauche die Wirtschaft Kräfte, die gut ausgebildet und sofort einsetzbar sind. Viele Langzeitarbeitslose gelten aber als "marktfern", wie es branchenintern heißt. Ihnen fehlen wichtige Qualifikationen, oder sie sind aufgrund verschiedener Probleme - Sucht, Finanzschwierigkeiten, familiäre Belastungen - schwer vermittelbar. Sie können nur mit erheblichem Aufwand für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden.

Als besonders dramatisch stuft der DGB die Situation der Arbeitslosen ein, die älter als 50 sind. "Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist in Deutschland die Neigung, ältere Arbeitnehmer einzustellen, besonders niedrig", sagt DGB-Sprecher Kai Lindemann. Das könne bald zum Problem werden, da der Fachkräftemangel immer größer werde. In Brandenburg wollen Landesregierung, Sozialpartner und Arbeitsagenturen einen Masterplan erstellen, um ältere Arbeitnehmer wieder zu beschäftigen.

Der Senat plant rund 2500 öffentlich finanzierte Stellen vor allem für ältere Menschen, die als nicht vermittelbar gelten. Nach Angaben von Arbeitssenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei) können Einsatzbereiche unter anderem in der Betreuung von alten und behinderten Menschen liegen. Das Gehalt soll etwa 1300 Euro monatlich betragen. Das Projekt soll im Sommer starten.

Reinhard Müller, Chef des Job-Centers Marzahn Hellersdorf, nennt noch ein weiteres Phänomen. Zwar geht berlinweit die Zahl der Arbeitslosen zurück - im vergangenen Jahr um rund 35.000 auf derzeit 272.000. Aber die Zahl der Haushalte, die auf Unterstützung angewiesen sind, sinkt nicht. Viele Menschen haben zwar eine Arbeit gefunden, verdienen aber so wenig, dass sie weiterhin ergänzende Gelder der Jobcenter erhalten. Laut Regionaldirektion sind das rund 15.000 Menschen, deren Familieneinkommen durch Hartz-IV-Leistungen aufgestockt werden. Man könne auch beobachten, dass viele der jetzt angebotenen Stellen Jobs auf 400-Euro-Basis seien.

Diese Beobachtung hat auch Fritz Brandes vom Jobcenter Reinickendorf gemacht: "Die Entwicklung stimmt bedenklich", sagt er. "Eigentlich darf es nicht sein, dass jemand 40 Stunden in der Woche arbeitet und trotzdem nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen kann." Sigrid Kneist ()

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