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Berlin: Finsternis und Hoffnung

Eine Osterbotschaft aus dem Weddinger Problemviertel Soldiner Kiez / Von Michael Glatter, evangelischer Pfarrer

Ostern feiert die Christenheit die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Ostern hat Gott den Menschen gezeigt, dass sein JA zum Leben stärker ist als das NEIN des Todes – das gibt Hoffnung über dieses Leben hinaus.

Karfreitag hatte es so ganz anders ausgesehen: Jesus von Nazareth war ans Kreuz geschlagen worden und gestorben. Alle Hoffnung war gestorben für die, die mit ihm unterwegs waren, die alle ihre Erwartungen auf ihn gesetzt hatten und ihre Sehnsüchte in ihm erfüllt sahen. Die Finsternis des Todes, die Angst legte sich über ihr Leben, über ihr Herz und ihre Seele. Sie verzweifelten, weil sie nicht mehr weiterwussten, weil sie wie erstarrt nebeneinander herlebten.

Am ersten Tag der Woche geschah es dann. Die Frauen, die zum Grab gegangen waren, brachten die Nachricht: ‚Er lebt!’ Wie ist das möglich? Der menschliche Verstand begreift es nicht, doch der Glaube schenkt die Einsicht: Gott lässt es weitergehen. Wir sehen Licht am Ende unseres Tunnels. Wir werden befreit von der Last, die uns niederdrückt. Angst verwandelt sich in Zuversicht und Hoffnung. Wo wir keinen Ausweg sahen, eröffnen sich neue Möglichkeiten.

Ostern feiern auch die Christinnen und Christen im Soldiner Kiez die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. In dieser Gegend von Berlin ist es das Fest einer Minderheit. Statistisch gesehen ist Ostern nur noch für etwa ein Viertel der Bevölkerung ein Glaubensfest. Für die anderen sind es freie Tage; die Verkündigung von Ostern mag ihnen vorkommen wie den Jüngern die Botschaft vom leeren Grab (Lukas 24,11): „Es erschienen ihnen diese Worte, als wär’s Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht.“ Der türkische Obst- und Gemüsehändler, der seinen Stand vor der Stephanus-Kirche aufbaut, versteht nicht, warum er Karfreitag und Ostermontag nicht dort stehen darf. Für ihn sind es zwei verlorene Geschäftstage. Für die Arbeitslosen sind es Tage ohne Abwechslung: Statt mancher Ämtertour oder der Aussicht, sich in Geschäften aufzuhalten, heißt es: Fernsehen oder Kneipenbesuch. Eltern haben die Kinder daheim und wissen nicht, wie sie die gemeinsame Zeit füllen sollen.

Was die Bibel mit Karfreitag und Ostern beschreibt, ist jedoch nicht nur bei Christenmenschen zu beobachten. Erfahrungen von Finsternissen ganz unterschiedlicher Art, aber auch von neu aufkeimenden Hoffnungen sehe ich allerorten: Ich höre vom Karfreitag in Gesprächen mit Menschen, die gerade ihren geliebten Partner, ihre geliebte Partnerin verloren haben und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ich sehe den Karfreitag bei Kindern, denen Elternhaus und Schule keine Perspektiven für ein erfülltes Leben zu eröffnen vermögen. Ich fühle den Karfreitag bei Männern und Frauen, die arbeitslos sind und die nach und nach die Achtung vor sich selbst verlieren, weil ihnen als Mensch und Arbeitskraft niemand Wertschätzung entgegenbringt. Ich spüre den Karfreitag bei Geschäftsleuten, die ihre Lebensmittel lieber wegschmeißen als sie unserer Aktion‚ „Laib und Seele“ zugunsten der ALG II-Empfänger zu spenden, weil das die Preise verdirbt.

Ostern dagegen spüre ich, wo Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Religion miteinander Perspektiven für den Kiez erarbeiten und umsetzen: Gegenseitige Einladungen zum Kennenlernen und Feiern, gemeinsames Arbeiten für die Verbesserung der Lebensqualität und Verschönerung im Kiez, eine afrikanische Gemeinde sowie Deutsch- und PC-Kurse für MigrantInnen aus Afrika unter dem Dach unseres Gemeindehauses, der große Erfolg des kiezbezogenen „Prime Time Theaters“ oder die Wiederinbetriebnahme des „Glaskastens“ als Kleinkunstbühne. Ostern ist da, wo Kindern ein Blick aufs Leben jenseits von Straße, Gewalt und Fernsehen ermöglicht wird. Ich sehe Ostern da, wo die Kreisläufe von Angst, Sucht, Trauer und Hoffnungslosigkeit durchbrochen werden. Ich höre Ostern in den Erzählungen derer, die gegen jede Erwartung doch eine Beschäftigung gefunden haben. Ich fühle Ostern da, wo Menschen wie durch ein Wunder wieder Kraft für ihr Leben gefunden haben. Viele pflegebedürftige Menschen, die in den zwei Seniorenheimen bei uns im Kiez wohnen, freuen sich: An den Feiertagen kommen Verwandte häufiger und länger zu Besuch.

Beides, Karfreitag und Ostern, nebeneinander auszuhalten, ist schwer – ob im Soldiner Kiez oder in meinem Leben. Warum dauert der Karfreitag für einige so unerträglich lang? Wann endlich wird die Trauer aufhören und wieder Lachen möglich sein? Wann wird jeder Arbeit suchende Mensch wieder als Mensch mit eigenem Wert und eigenen Fähigkeiten wahrgenommen und nicht als Nummer, die bearbeitet werden muss? Und doch hat auch der Karfreitag für mich eine unaufgebbare Botschaft: An Karfreitagen weiß ich mich und andere in Gott aufgehoben, selbst wenn er tot ist und der Himmel leer. Oft weiß ich nicht nicht wie, aber ich weiß, dass Ostern kommt. Ich weiß, dass Gottes JA zum Leben und zur Liebe stärker ist als das NEIN des Todes und der Angst. Und ich weiß, dass dieses JA Gottes nicht nur den Christinnen und Christen im Soldiner Kiez, sondern allen Menschen auf der ganzen Welt gilt.

Gottes Liebe ist so groß, dass er unseren persönlichen Karfreitag in ein fröhliches Osterfest verwandeln wird.

Aus dem Soldiner Kiez wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Osterfest.

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