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Protestnoten. Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen wiesen am Donnerstag im Abgeordnetenhaus mit Schildern darauf hin, welche Orte und Gebäude in der Stadt sich besser für die Unterbringung von Flüchtlingen eigneten als das Tempelhofer Feld. Bei der Debatte ging es aber auch staatsmännisch zu.

© Gregor Fischer/ dpa

Flüchtlinge in Berlin: Czaja gesteht Fehler ein – und bekommt viel Lob

Nach der aktuellen Stunde im Parlament soll sich nun vieles ändern. Die Flüchtlingsverwaltung wird neu geordnet und auf dem Tempelhofer Feld darf gebaut werden. Der Sozialsenator rechnet mit 77.000 Asylbewerbern in diesem Jahr.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Die Zahl der Menschen, die Hilfe suchen, nimmt nicht ab. Im Januar hat Berlin weitere rund 6400 Flüchtlinge aufgenommen, teilte Sozialsenator Mario Czaja (CDU) am Donnerstag im Abgeordnetenhaus mit. Rechne man die Zahl aus dem Winter auf das Jahr hoch, müsse Berlin 2016 mit noch einmal 77.000 Asylbewerbern rechnen. Das entspreche der Größenordnung des vergangenen Jahres, da waren es rund 80.000 Flüchtlinge, von denen laut Czaja rund 55 000 in der Stadt blieben. Vielleicht sind es solche Prognosen, die den rot-schwarzen Senat aber auch die Opposition ein bisschen nachdenklicher werden lassen. Die Aktuelle Stunde im Parlament zur Unterbringung und Integration der Flüchtlinge, die auf Antrag der Grünen zustande kam, fiel jedenfalls weniger stürmisch aus als erwartet. Stattdessen erinnerte Czaja in ruhigem, geradezu staatsmännischen Ton daran, dass Berlin „einen enormen Kraftakt zu bewältigen hat“. Er gestand eigene Fehler ein und appellierte an die Gemeinsamkeit der Demokraten. „Die Flüchtlingskrise eignet sich nicht für parteipolitische Rangeleien – egal wie nahe wir bereits vor dem Berliner Wahlkampf stehen.“

Auch die Sozialdemokraten applaudierten dem – in den vergangenen Wochen – viel gescholtenen Senator für seine Rede. Selbst der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), der den christdemokratischen Senatskollegen noch im Dezember am liebsten entlassen hätte, schaute freundlich drein. Die SPD-Sozialexpertin Ülker Radziwill ließ sich in ihrer kurzen Rede sogar zu einem Lob hinreißen. „Wir begrüßen die Bemühungen des Senators Czaja, das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) strukturell zu verbessern.“ Das sei dringend notwendig und dafür habe er die volle Unterstützung der Sozialdemokraten.

Scharfe Kritik an Flüchtlingsunterkunft auf dem Tempelhofer Feld

Die Opposition übte pflichtgemäß Kritik an der geplanten Unterbringung von 7500 Menschen auf dem Tempelhofer Feld und der Gründung eines Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür wurden am Donnerstag beschlossen. SPD und CDU verabschiedeten entsprechende Landesgesetze. Grüne, Linke und Piraten warfen der Koalition vor, das umstrittene Tempelhof-Gesetz in den Parlamentsausschüssen „durchgepeitscht“ zu haben. Der Senat bereite dort die „größte Massenunterkunft Deutschlands“ vor, sagte die Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek. Ein solches Flüchtlingsdorf löse keine Probleme, sondern schaffe neue.
Auch das neue Landesamt fand bei der Opposition keine Gnade. Für die geplante Ausgliederung der Flüchtlingsbetreuung aus dem Lageso gebe es weder ein Konzept noch Personal-, Zeit- und Finanzpläne, kritisierte der Linken-Landeschef und Abgeordnete Klaus Lederer in der Parlamentsdebatte. Die Erfindung neuer Behörden bringe in Berlin erfahrungsgemäß nur neues Chaos. Auch die Grünen-Politikerin Kapek hält die Gründung eines neuen Landesamts für einen Schnellschuss: „Welche Vorteile soll das haben?“ Stattdessen schlug sie vor, bis Anfang 2017 zu warten und dann in Ruhe eine „funktionierende Willkommensbehörde“ aufzubauen. Auch der Pirat Fabio Reinhardt vermisst für das neue Amt ein brauchbares Konzept.

Dann war da noch die Sache mit der Lügengeschichte. Ein ehrenamtlicher Helfer der Initiative „Moabit hilft“ hatte den Tod eines syrischen Flüchtlings erfunden und war damit in die Schlagzeilen geraten. Dies überschreite jede Grenze von Moral und Anstand, erklärte Innensenator Frank Henkel (CDU). Und der CDU-Fraktionschef Florian Graf sprach vom „Gipfel der Diskreditierung des Sozialsenators und des Lageso“.

Opposition habe Gerücht um toten Syrer zu schnell geglaubt

Von diesen donnernden Pressemitteilungen abgesehen bemühten sich die Fraktionen im Abgeordnetenhaus jedoch um rhetorische Abrüstung. Regierung und Opposition lobten gleichermaßen die aufopfernde Arbeit der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer in Berlin. Senator Czaja ignorierte das Thema und der SPD-Abgeordnete Daniel Buchholz begnügte sich mit der Bemerkung, dass hier versucht worden sei, „mit Desinformation die Stadtpolitik zu bestimmen“.

Nur der CDU-Politiker Stefan Evers, sonst eher ein Mann der leisen Töne, gab den Oppositionsparteien noch eins mit. Sie seien, nachdem das Gerücht vom toten Syrer in die Welt gesetzt worden sei, wie „apokalyptische Reiter“ zu Felde gezogen, ohne den Wahrheitsgehalt überprüft zu haben. Voreilige Verlautbarungen der Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop fand Evers überhaupt nicht gut. „Einer Spitzenkandidatin der Berliner Grünen ist das nicht würdig.“ Die Vorgänge am Mittwoch, die bundesweit zu heftiger Aufregung führten, seien der Opposition hoffentlich eine Lehre.

"Ist die Opposition bereit, Verantwortung für diese Stadt zu übernehmen?"

Worum es dem CDU-Mann eigentlich ging, sagte er anschließend. Er würde, so Evers, auch gern nur dasitzen und herumschreien. „Wir stehen aber in der Verantwortung.“ Grüne, Linke und Piraten sollten in Berlin diese Regierungsverantwortung auf keinen Fall übernehmen. Der SPD-Kollege Buchholz machte sich diese politische Einschätzung jedoch nicht zu eigen, denn es könnte sein, dass die Berliner Sozialdemokraten nach der Wahl am 18. September auf eine rot-grüne oder rot-rote Mehrheit angewiesen sind. Vielleicht sogar auf ein linkes Dreierbündnis.

Also begnügte sich Buchholz mit der rhetorischen Frage: „Ist die Opposition bereit, Verantwortung in dieser Stadt zu übernehmen?“ Eine Antwort erhielt er nicht. Stattdessen sprachen Grüne, Linke und Piraten dem rot-schwarzen Senat die Fähigkeit ab, ordentlich zu regieren. Statt einer planvollen, strategischen Krisenbewältigung gebe es nur Ankündigungen und hektischen Aktionismus, sagte der Linken-Politiker Lederer. Er sprach von „fortgesetztem Versagen“ der rot-schwarzen Koalition. Eine Landesregierung, die zwar immer wieder zur Gemeinsamkeit aufrufe, aber nicht bereit sei, die Oppositionsparteien bei der Lösung der großen Probleme einzubeziehen, beklagte der Pirat Reinhardt.

Für eine kleine Überraschung war am Ende der Debatte, als das Tempelhof-Gesetz zur Abstimmung stand, der CDU-Abgeordnete Markus Klaer gut. Er stimmte dagegen, weil er einen „eigenen Stadtteil für Flüchtlinge für verantwortungslos“ halte. Dies löse Ängste bei den Bürgern aus und sei eine einfache und schnelle, aber keine gute Lösung, sagte der CDU-Ortsverbandschef aus Alt-Tempelhof. Die Opposition war begeistert.

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