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Kindheit in der Massenunterkunft. Vor allem in Turnhallen ist die Situation von Flüchtlingen extrem unbefriedigend.

© picture alliance / dpa

Flüchtlinge in Berlin: Leben in der Massenunterkunft

Monatelang auf engstem Raum mit fremden Menschen. Keine eigene Küche, keine eigene Dusche. Dazu Sorgen, Depressionen, Alkohol: Besuch im Alltag einer Notunterkunft.

Abu muss einen Moment überlegen, dann streckt er auch den Mittelfinger aus. Jetzt zeigen drei seiner Finger in die Höhe, Abus Antwort auf die Frage: Wie alt bist Du? Vor ihm hängt ein Flachbildschirm an der Wand, ein Comicfilm läuft über die Mattscheibe, Abu hockt auf einem Plastikstuhl und jauchzt. Die Welt des Dreijährigen ist in Ordnung.

Von der Welt, die weniger in Ordnung ist, der Welt seiner Eltern, weiß er nicht viel. Abu weiß nicht, dass er schon als Einjähriger hier gesessen hat, in diesem Kinderzimmer mit den farbigen Sofas, mit der Schiefertafel an der einen und dem Fernseher an der anderen Wand. Damals lag er in den Armen seiner Mutter oder auf ihrem Schoß. Er weiß nicht, dass er seit September 2014 in einer ehemaligen Schule lebt, dass die Privatsphäre seiner Familie aus Turkmenistan, Mutter, Vater, sechs Kinder, an den Wänden eines früheren Klassenzimmers endet.

Vor allem weiß er nicht, dass seine Familie die Menschen sind, die am längsten in der Notunterkunft Gotenburger Straße, Gesundbrunnen, untergebracht sind. 26 Monate Leben im Ausnahmezustand.

Mehrere tausend Flüchlinge leben noch in Notunterkünften, in Turnhallen, Kasernen, in ehemaligen Schulen. Seit Monaten, seit Jahren teilweise. Und bis mindestens Jahresende ist kein Auszug möglich. Aber es gibt Entwicklungen, und sie sind dramatisch. Denn verändert hat sich sehr wohl etwas: der seelische Zustand der Flüchtlinge. Heimleiter, Mediziner und Betreuer berichten von Depressionen, von Menschen, die nie tranken, und jetzt zum Alkohol greifen. Von Rauschgift.

Der Arzt hat schriftlich eine eigene Wohnung empfohlen

Xhemail Rafund erzählt auch von Depressionen. Und damit erzählt er vom Alltag in einer Notunterkunft. Er sitzt vier Meter neben dem jauchzenden Abu, und in seinem Blick spiegeln sich die Spuren der Verzweiflung. Rafund ist breitschultig und stämmig, aber wenn er von Tutas Depressionen erzählt, dann scheint es, als krümmte sich sein Rücken.

Tuta ist seine Frau, 38, acht Jahre jünger als er, Mutter von drei Kindern, sie lebt mit ihrer Familie, wie alle Familien hier, in einem ehemaligen Klassenzimmer. Ein Hauch von Privatsphäre. „Meine Frau hat Ängste, wenn sie mit anderen kochen soll, sie hat Ängste, weil sie die ganzen Menschen nicht mehr erträgt. Sie möchte nur noch ihre Ruhe haben. Sie möchte auch nicht mehr im gleichen Zimmer wie ihre Kinder schlafen.“

Xhemail Rafund, Kosovare, gelernter Mechaniker, sagt, Tuta sei in Behandlung, in der Charité. Sie nehme täglich Medikamente, ihr Arzt habe schriftlich den Umzug in eine eigene Wohnung empfohlen. „Weil, sonst...“. Sonst? Kurzes Flackern in Rafunds Blick. „Sonst würde meine Frau immer noch mehr kranker.“

Das Hauptproblem hier, sagt Michael Grunewald, „ist die Frage der gegenseitigen Rücksichtnahme“.

Grunewald leitet die Einrichtung, ein Mann mit kurzen Haaren und leichtem sächsischen Akzent. Sein Büro liegt in einem Nebenflügel, hier organisiert er das Leben in der Unterkunft. Er blickt in seinen Computer, menschliche Schicksale, statistisch erfasst: 180 Flüchtlinge aus 15 Nationen, darunter ein paar Familien, 40 Minderjährige und vier allein reisende Frauen. Der Rest alleinreisende Männer.

Keine eigene Küche, keine eigene Dusche, keine eigene Toilette

Monate in einer Notunterkunft, das ist das systematische Aufschichten von kleinen Problemen zu einem riesigen Berg. Und irgendwann bricht er, der Berg, und geht als riesige, walzende Lawine auf die Bewohner nieder. Es geht ja meist bloß um banale Alltagsfragen. „Der eine achtet auf Sauberkeit, der andere nicht“, sagt Grunewald. „Der eine telefoniert im Zimmer, nicht auf dem Flur, und nervt damit andere. Der eine lässt sich nachts um vier von seinem Handy fürs Gebet wecken, der andere will schlafen. Der eine muss lernen für den Deutschkurs, der andere hört laut Radio.“ Das nervt schon im normalen Alltag, doch da lassen sich solche Probleme meist regeln. Aber in der Gotenburger Straße wohnen in einem Raum monatelang sieben alleinreisende Männer, sie haben keine eigene Küche, keine eigene Toilette, keine eigene Dusche. Sie haben keine Rückzugsmöglichkeit. Aber sie haben Familien zu Hause, im Kriegs- oder Krisengebiet, sie haben ihre Ängste um ihre Angehörigen.

Die menschliche Leidensfähigkeit hat Grenzen.

Dabei, sagt Grunewald, „sind wir hier sogar noch in einer relativ guten Situation“. Die Bewohner kochen selber, in der früheren Schulküche stehen 32 Herdplatten, sie kaufen die Lebensmittel, die sie wollen. Es gibt ein Kinderzimmer und Sozialbetreuer, die sich um die Kinder kümmern. „Wir hören über unsere Security-Leute, welche Probleme die Menschen bewegen“, sagt Grunewald. Wenn möglich, gingen er und sein Team darauf ein. „Das Einzige, was wir hier nicht machen, sind Operationen.“

"Kokain haben wir noch nicht gefunden"

Grunewald hatte früher mal eine Notunterkunft in einer Turnhalle geleitet. „Dort ist die Situation ja noch viel schlimmer als bei uns.“ Die Menschen könnten ja nicht mal selber kochen. Ein Caterer liefert das Essen. Die Privatsphäre wird durch die Laken begrenzt, die man zwischen der eigenen Unterkunft und der es Nachbarn spannt. „Dass sich dort Leute die Birne voll dröhnen, um zu verdrängen, ist doch normal“, sagt Grunewald.

Getrunken wird auch in der Gotenburger Straße, obwohl Alkohol verboten ist. Leute rauchen hier auch Joints, obwohl auch Drogen verboten sind. Grunewald räumt das ein, aber dann sagte er fast zufrieden: „Kokain haben wir noch nicht gefunden.“ Er meint es nicht so, wie es klingt, nämlich fast zynisch. Wie die Rankingliste der Leiden. Wo ist es noch schlimmer?

Es ist selbst in der Gotenburger Straße schlimm genug. Grunewald kann nichts dafür, es sind die Umstände. Man kann zum Beispiel ins Zimmer von Maher Alzoubi gehen. Er wohnt dort mit sechs anderen Männern, alle Syrer wie Alzoubi. Sieben Betten stehen nebeneinander, getrennt nur jeweils durch einen schmalen Schrank. Vor jedem Bett steht ein kleiner Tisch. Nicht mal in Mehrbettzimmern von Krankenhäusern liegen Menschen so dicht beieinander wie hier. Die Tische sind voll mit Papieren, Wasserflaschen, Tassen, auch ein Koran liegt da.

Drangvolle Enge. Maher Alzoubi (links) mit zwei seiner insgesamt sechs Mitbewohner.
Drangvolle Enge. Maher Alzoubi (links) mit zwei seiner insgesamt sechs Mitbewohner.

© Frank Bachner

Sie haben Regeln aufgestellt: Rauchen nur draußen, Telefonate auf dem Flur

Alzoubi lebt seit September 2015 hier, ein freundlicher Mann, der fast sanft redet. „Es ist schon eng hier“, sagt er. Der 34-Jährige würde gern raus, endlich weg von Gemeinschaftstoiletten und -duschen. Sie haben hier Regeln aufgestellt, die Männer, damit das Zusammenleben einigermaßen funktioniert. Rauchverbot im Zimmer, Telefonate auf dem Flur, das Licht wird um 23 Uhr gelöscht. „Es funktioniert“, sagt Alzoubi. Er klagt eher unauffällig, er schiebt die Hinweise auf seine Probleme zwischen Sätze von Dankbarkeit für alles sagt, dass er schnell zur U- und zur S-Bahn kommt. Aber er finde keine Wohnung, obwohl er sich bemühe. Und dann genügt ein Satz, um den Kern seiner Leiden darzustellen: „Ich komme aus Aleppo.“

An der Wand hängt eine Schiefertafel. Alzoubi und die anderen haben mit gelber Kreide deutsche Worte geschrieben, „Fußball“, „Bruder“, „Schwester“. Alzoubi hatte in Syrien als Pädagoge gearbeitet, er absolviert in einer Potsdamer Grundschule ein Praktikum. Andere im Zimmer machen Deutschkurse. „Wir müssen hier lernen“, sagt Alzoubi, „wo sollen wir sonst hin?“ Später möchte er gerne in Deutschland als Pädagoge arbeiten. Wenn er bleiben darf.

Abu, der Dreijährige, der vor dem Fernseher jauchzt, weiß nicht, dass seine Familie nicht bleiben darf. Ihr Asylantrag wurde vor kurzem abgelehnt. Seinen vierten Geburtstag wird Abu wohl nicht mehr in der Gotenburger Straße feiern.

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