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Ihr Platz: Seit neun Monaten demonstrieren die Flüchtlinge inmitten von Kreuzberg.

© Mike Wolff

Flüchtlingscamp am Oranienplatz in Berlin: Träume auf Lager

Das Flüchtlingscamp am Oranienplatz ist umstritten und politisch nur geduldet. Doch wer sind eigentlich die Menschen, die hier seit Monaten leben? Was tun und hoffen sie? Ein Besuch.

Der erste Eindruck vom Flüchtlingscamp überrascht. Beinahe verlassen ruht das Zeltlager mit den 15 provisorischen Behausungen mitten auf dem Oranienplatz. Wer hier Massen von Flüchtlingen erwartet, die sich die Zeit in der Sonne vertreiben, sieht sich getäuscht. Und wenn es regnet, ziehen sich die meisten Bewohner ins Innere der Zeltbäuche zurück. Männer hocken dort auf gespendeten Matratzen. Sie spielen Karten, trinken Tee, einige schreiben Briefe an die in der Heimat verbliebenen Familien: „Es geht uns gut“ – „Einmal am Tag bekommen wir warmes Essen“ – „Macht Euch keine Sorgen“. Die Zeilen ähneln sich, ganz gleich in welches Heimatland sie geschickt werden: nach Somalia, Mali, Libyen, Syrien. Manche trauen sich nicht einmal, ihre Heimat zu nennen, zu groß ist die Angst vor einer Abschiebung. Die rund 100 Flüchtlinge, die hier seit ihrem Marsch nach Berlin vor neun Monaten ausharren, um ihr Bleiberecht in Deutschland durchzusetzen, sind weitaus Schlimmeres gewohnt als Straßensteine unter ihren Füßen.

Einer von ihnen ist Tahir aus dem zentralafrikanischen Tschad, der sich vor dreieinhalb Jahren auf die Flucht gemacht hat – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ohne Hunger, ohne Armut, ohne Gewalt. Auf der Suche nach Arbeit, egal welche – damit der ausgebildete Busfahrer seine siebenköpfige Familie daheim in Afrika unterstützen kann. Drei seiner Kinder sind schwer krank, das jüngste hat Malaria, doch im Tschad mangelt es an ärztlicher Betreuung. Auf der Liste der „failed states“, der gescheiterten Staaten, liegt das Land an fünfter Stelle. „Ich würde gern meine Kinder auf eine gute Schule schicken“, sagt der 47-Jährige. „Ich wünsche mir eine bessere Zukunft für sie.“

In leisen Worten schildert Tahir auf Französisch die Odyssee seiner Flucht bis hierher. Bis zu dem Punkt, an dem sein persönliches Schicksal hinter Aktendeckeln verschwindet und hinter politischen Forderungen im Kampf um das Asylrecht. Tahir ist einer von 6000 Asylbewerbern, die inzwischen in Berlin untergekommen sind, einer von 45 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit. Vor dem Flüchtlingscamp ist ein Banner gespannt, auf dem steht: „Kein Mensch ist illegal“. Aber dürfen und sollen Menschen deshalb campieren auf einem öffentlichen Platz mitten in der Stadt? Der eigentliche Zweck des Protestcamps ist, die Forderungen der Flüchtlinge öffentlich zu machen. Es gilt deshalb als politische Demonstration und wird vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geduldet. In München wurde gerade ein ähnliches Camp geräumt, weil dort Flüchtlinge in einen Hungerstreik getreten waren und zu verdursten drohten.

Auch in Berlin wird über das Lager am Oranienplatz kontrovers diskutiert. In Kreuzberg kursiert eine Unterschriftenliste, in der die Räumung gefordert wird. „Die Fronten sind verhärtet“, sagt Heiko, ein Werbetexter aus Mitte, der oft als Helfer in das Camp kommt, aber seinen vollen Namen nicht nennen will, weil er meint, damit seinen Job zu gefährden. „So ein Flüchtlingscamp inmitten der Stadt ist keine Dauerlösung“, sagen zwei vorbeieilende ältere Damen, die beteuern, dass sie persönlich nichts gegen Flüchtlinge hätten. Andere monieren die Gerüche von den Latrinen, den Müll. Manche Geschäftsleute befürchten, dass Kunden wegbleiben. Mit den Menschen zu sprechen, die seit Monaten in dem Camp leben, ist nicht leicht. Man muss sich einige Tage Zeit nehmen, damit sie Vertrauen fassen und von sich erzählen.

Vom Tschad aus ging es für Tahir zunächst zu Fuß nach Libyen. „Zehn Tage lang sind wir bis zur Erschöpfung gelaufen“, erzählt er. Dann habe ihn ein Lastwagen den restlichen Weg mit in die Hauptstadt genommen. Kaum angekommen, brach der Bürgerkrieg aus. Und Tahir bekam erste Zweifel, ob die Flucht überhaupt gelingen kann. In Libyen hörte Tahir aber auch erstmals Geschichten über jene, denen die Reise nach Europa geglückt war – auch Geschichten über Deutschland. Dass dort die Kinder zur Schule gehen, dass es gute Krankenhäuser gibt und niemand Hunger leidet.

Doch zunächst ging es mit rund 300 anderen Menschen an Bord zur italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa – in einem überfüllten Boot und bei unruhiger See. „Alle von uns haben pausenlos gebetet. Wir Muslime an unseren Allah, die Christen an ihren Gott“, berichtet Tahir unter Tränen. Menschen starben, einige warfen sich freiwillig über die Reling, damit sich die Überlebenschancen ihrer Angehörigen erhöhen. Tahir stockt, wendet sich ab, schnäuzt in sein Taschentuch. Zwölf Uhr. Zeit für den Unterricht, sagt er. Pause von den Erinnerungen, die so schwer zu ertragen sind.

Der Englischunterricht findet im Kochzelt nebenan statt. Tahir hat in seinem karierten DIN-A-4-Spiralheft die vielen englischen Vokabeln gleich neben der deutschen Übersetzung notiert; daneben die vertraute arabische Schrift. Fröhlich begrüßt die junge Englischlehrerin Sabrine, die auch ihren Nachnamen lieber nicht nennen will, ihre Schüler im offenen Zelt. „Schön, dass Ihr da seid!“, ruft die gebürtige Marokkanerin mit Schweizer Pass. Heute treffen nacheinander zehn Männer ein, am kommenden Tag, als die Sonne wieder scheint, werden es 35 sein.

Wenn ein Vokabelheft zum wertvollsten Besitz wird

Tahir aus dem zentralafrikanischen Tschad lernt täglich Englisch und Deutsch.
Tahir aus dem zentralafrikanischen Tschad lernt täglich Englisch und Deutsch.

© Mike Wolff

Die meisten erscheinen regelmäßig, sagt Sabrine. Für viele stellt der kostenlose Sprachunterricht nicht nur eine Abwechslung im eintönigen Campleben dar. Für Leute wie Tahir sind Sprachkenntnisse der Schlüssel zu einem neuen Leben. Unbedingt möchte er Englisch lernen, vor allem ein gutes Deutsch. „Tahir ist einer meiner fleißigsten Schüler“, lobt Sabrine. Vom Alter her könnte er gut ihr Vater sein. Die Schweizerin schätzt die meisten ihrer Schüler als lernwillig ein. Deshalb ärgert sie sich auch über Vorurteile gegenüber Flüchtlingen. Dass sie faul seien und nur darauf aus, Geld vom Staat zu nehmen. „Wenn Sie hier fragen, wer gerne arbeiten möchte, werden Sie feststellen, dass alle genau das wollen“, sagt Sabrine.

Die Lehrerin, eine zierliche Frau mit kastanienfarbenen Haar, kommt seit einem Monat in das Kreuzberger Camp. Wie alle der rund 100 Helfer, „Supporter“ genannt, arbeitet auch sie ohne Bezahlung. Zwei-, drei Stunden Englischunterricht gibt sie pro Tag, sechs Mal in der Woche. Andere Supporter helfen beim Kochen, unterstützen die Flüchtlinge beim Ausfüllen von Formularen. Etliche Anwohner sammeln Lebensmittel, viele stellen ihre Waschmaschinen zur Verfügung.

Doch zuletzt gab es auch andere Bilder vom Oranienplatz. Am 17. Juni eskalierten Ausschreitungen, ausgelöst durch eine Messerattacke auf einen Flüchtling aus dem Camp. Die Polizei, mit 200 Beamten angerückt, bekam die Lage erst nach einigen Stunden in den Griff. Auch die Stimmung im Kiez drohte zu kippen. Von einer polizeilichen Räumung des „Unruheherds“ war auf der Straße die Rede. Doch wer eine längere Zeit am Oranienplatz verbringt, stellt bald fest, dass es nach wie vor viel Unterstützung gibt. An der Pinnwand des Infozelts hängt eine Solidaritätserklärung der Mietergemeinschaft vom Kottbusser Tor – unterzeichnet mit Kotti & Co.

Der Wohnprotest der Flüchtlinge inmitten der Stadt polarisiert. Er hat eine neuerliche Debatte über das Asylrecht ausgelöst, während die Politik weiterhin abwartet. Während der Bezirk das Camp politisch duldet und um Gespräche mit Anwohnern wirbt, gibt es von der Stadt bislang keine offizielle Äußerung. „Ich glaube, dass sich die Politik irgendwann in naher Zukunft der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsthema nicht mehr entziehen kann“, sagt der scheidende Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne), bevor er sich in den Ruhestand verabschiedet. Nun hoffen die Flüchtlinge darauf, dass ihre Forderungen spätestens im Bundestagswahlkampf Gehör finden werden. Ihnen geht es um die Aufhebung der Residenzpflicht, um schnellere Arbeitsmöglichkeiten, das Recht auf Bildung sowie die Abschaffung von Gemeinschaftsunterkünften. Sie verlangen auch einen Stopp der Abschiebungen und ein Bleiberecht.

Sein Vokabelheft ist sein wertvollster Besitz, sagt Tahir. Noch hat er Hoffnung, dass er die Vokabeln nicht umsonst lernt.
Sein Vokabelheft ist sein wertvollster Besitz, sagt Tahir. Noch hat er Hoffnung, dass er die Vokabeln nicht umsonst lernt.

© Mike Wolff

Im Zirkuszelt haben sich jetzt einige Männer eingefunden. Einer von ihnen sammelt leere Teller und Besteck ein; heute gab es Reis mit Kichererbsensoße und Huhn. Ein anderer fegt den Sandboden, wobei eine Staubwolke hoch wirbelt. Tahir hat schon wieder seinen Schreibblock auf dem Schoß liegen. Leise murmelt er die fremdartigen Artikel vor sich hin. Auch Sabrine hat es sich am vorletzten Tag ihrer freiwilligen Arbeit auf einer der gespendeten Couchgarnituren gemütlich gemacht. Sie freut sich, dass sich ein Lehrer als Nachfolger für sie gefunden hat, der den Unterricht im Camp fortsetzen will. Sie selbst will in die Schweiz zurückgehen, wo ein neuer Job auf sie wartet. Die Geschichten der Flüchtlinge aus Berlin werden sie weiter begleiten – und ihre Vokabeln vielleicht auch. „Sabrine, Sabrine, habe ich das richtig geschrieben?" Tahir reicht ihr das Heft. Er hat keinen Fehler gemacht; die Freude ist beiderseits.

Deutschland erscheint Tahir nach wie vor wie ein Traum. Auch wenn er sich alle drei Wochen im ihm zugewiesenen Flüchtlingslager in Wandlitz einfinden muss, um sich dort zu melden. Auch wenn er Repressionen vom Staat befürchtet, weil er eigentlich gegen die Gesetze verstößt, wenn er sich in Berlin aufhält. Auch wenn er jeden Tag darum bangt, ein Bleiberecht zu bekommen. Obwohl er hier, auf dem Oranienplatz, nichts weiter besitzt als zwei Paar Hosen aus einer Altkleiderspende, zwei Hemden, von denen er gerade eines trägt, sowie das Paar Turnschuhe an seinen nackten Füßen. „Vergessen Sie nicht mein Vokabelheft“, sagt Tahir. „Es ist mein wertvollster Besitz.“ Noch hat er Hoffnung, dass er die Vokabeln nicht umsonst lernt.

Alicia Rust

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