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Innensenator Frank Henkel (CDU, l) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nehmen an einer Sitzung des Abgeordnetenhauses am 10.09.2015 in Berlin teil.

© dpa

Flüchtlingsdebatte im Berliner Abgeordnetenhaus: Michael Müller: "Wir sind von einer Katastrophe weit entfernt"

Die Flüchtlingspolitik in Berlin stand im Mittelpunkt der Aktuellen Stunde. Dabei gab es kaum Kontroversen. Mit einer Ausnahme.

Von Sabine Beikler

Im Abgeordnetenhaus ging es am Donnerstag um Flüchtlinge. Alle fünf Fraktionen hatten sich verständigt, in der Aktuellen Stunde über das Thema „Berlin hilft den Flüchtlingen“ zu sprechen. Die Debatte darüber verlief bis auf einige Ausnahmen nicht sehr kontrovers. Denn angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen und der Parolen von Rechtspopulisten herrscht Konsens darüber, sich politisch nicht auseinanderdividieren zu lassen.

SPD-Fraktionschef Raed Saleh betonte, die Herausforderung sei die Integration der Ankommenden. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und der Senat hätten auf die Situation „entschlossen reagiert“. Das Parlament sei seiner Verantwortung nachgekommen und habe nicht auf Steuerungsrechte bestanden.

Die SPD sei „offen für Durchgriffsrechte“ gegenüber Bezirken und schnelleren Vergaben. „Wir werden keine Unterbringungsdebatten mehr führen“, sagte Saleh. „Wir werden alle Gebäude brauchen.“ Die SPD schlage den anderen Fraktionen vor, bis Ende der Legislatur einen Sonderausschuss im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik begleitend zur Senatspolitik zu bilden. Die anderen Fraktionen gingen auf Salehs Vorschlag jedoch nicht ein.

"Berlin ist eine starke Metropole"

„Ich bin beeindruckt über die Offenheit der Bürger“, aber: „Die Stimmung kann kippen“, sagte Saleh, in dessen Bezirk Spandau die Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne liegt, in der seit Montag Flüchtlinge untergebracht sind. Damit das nicht passiert, appellierte Saleh für klare Ansprechpartner, die Kritik und Hilfsbereitschaft koordinierten. Die Unterbringung von Flüchtlingen sei die eine Herausforderung. Die langfristige Herausforderung sei jedoch die Integration.

Zuwanderung sei kein neues Phänomen. „Integration und Vielfalt ist eine Stärke, keine Schwäche“, sagte Saleh. Vielfalt bedeute auch, dass die Gesellschaft komplizierter werde. Man brauche eine „zupackende Integrationspolitik“. Ziel müsse sein, dass alle Kinder Kitas und Schulen besuchten, Ziel müsse die Gleichberechtigung von Mann und Frau sein, die Ablehnung von Gewalt, Offenheit gegenüber Fremden, Toleranz und die Akzeptanz von Minderheiten.

Diese Werte sollten als „gemeinsame Leitkultur“ definiert werden. „Dann haben wir die Chance, dass Integration stärker als vorher akzeptiert wird.“ Auch das Asylrecht müsse Teil einer Leitkultur sein. Saleh forderte ein Zuwanderungsgesetz nach kanadischem Modell. Es sei andererseits unsolidarisch, dass EU-Staaten wie Tschechien sich gegen eine Quotenregelung aussprechen und andererseits EU-Gelder bezögen.

Berlin sei Stadt des Aufstiegs und werde jährlich wirtschaftlich stärker. Das sei ein „optimistischer Ausblick. Berlin ist eine starke Metropole“.

Für den Senat sprach Sozialsenator Mario Czaja (CDU). Die Lage habe sich in den letzten drei Monaten „dramatisch verändert“. Er erinnerte an die schrecklichen Bilder von Stacheldraht und Zäunen in Ungarn, an das dreijährige Flüchtlingskind aus Syrien, das während der Flucht ertrunken war und an die Bilder des Lkw, in dem 71 Flüchtlinge ums Leben kamen.

Länder, Kommunen und Gemeinden seien vor große Herausforderungen gestellt. „Das hat auch uns an die Grenzen gebracht“, sagte Czaja. Das sei mit den bisherigen Mitteln nicht zu bewältigen. In Berlin sei der Paradigmenwechsel „rechtzeitig eingeläutet“ worden. Die Containerbauten konnten aufgestellt werden, medizinische Untersuchungen würden durchgeführt und die Chipkarte werde bis Ende des Jahres nach Absprache mit den Krankenkassen eingeführt. „Nur über Ressortgrenzen hinweg können wir die Aufgabe bewältigen“, sagte Czaja. Er dankte Müller und der Innenverwaltung, weil unbürokratisch weitere Mitarbeiter zur Verfügung gestellt werden konnten.

Das Lageso sei für so einen Flüchtlingsstrom nicht ausgelegt. Czaja dankte explizit dem Verein „Moabit hilft“ für seine Hilfe. Die Berliner Unternehmer und Landesunternehmen würden helfen, die Registrierungsverfahren seien vereinfacht worden. In höchster Geschwindigkeit seien neue Flüchtlingsunterkünfte aquiriert worden. Seit vergangenen Sonnabend wurden 3900 Flüchtlinge neu aufgenommen.

Czaja dankte auch den Verwaltungsmitarbeitern. „Das Bashing meiner Mitarbeiter ist nicht mehr weiter hinnehmbar“, sagte Czaja. Auch die Verwaltung zeige sich solidarisch. Mehr als 200 Mitarbeiter hätten sich innerhalb einer Woche gemeldet, um bei der Registrierung der Flüchtlinge im Lageso zu helfen. Weiterhin würden bezirkliche Gebäude für eine Unterbringung geprüft. Czaja bat auch Sportvereine um Verständnis, wenn Turnhallen derzeit nicht für den Sport genutzt werden könnten. Sprachkurse für Flüchtlinge würden ausgebaut, die Flüchtlinge würden schneller in Arbeit gebracht werden.

Czaja forderte beschleunigte Asylverfahren. Über 40 Prozent der Antragsteller seien im Juni und Juli aus sicheren Herkunftsländern gekommen. Man brauche auch eine schnelle Rückführung. „Passiert das nicht, wird die Akzeptanz in der Bevölkerung sinken.“Nichtsdestotrotz stecke hinter jedem Fall Einzelschicksale, zerrissene Familien, die ihre Angehörigen suchten. Diejenigen, die Schutz hier in der Stadt suchen, müsse man zeigen, dass sie hier willkommen seien.

Michael Müller verteidigt sich gegen Kritik

Innensenator Frank Henkel (CDU, l) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nehmen an einer Sitzung des Abgeordnetenhauses am 10.09.2015 in Berlin teil.
Innensenator Frank Henkel (CDU, l) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nehmen an einer Sitzung des Abgeordnetenhauses am 10.09.2015 in Berlin teil.

© dpa

Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop erinnerten die Bilder aus Budapest an ihre eigene Lebensgeschichte, als sie mit ihrer Familie 1988 von Rumänien über Ungarn nach Deutschland reiste. Ausgerechnet Ungarn baue nun wieder neue Grenzen auf. „Berlin hilft, weil wir es wollen, weil wir es können, weil wir es müssen“, sagte Pop. Helfer seien in Berlin unermüdlich unterwegs. Ihnen gebühre Dank für diese Arbeit. Dieses Engagement dürfe nicht die Arbeit der staatlichen Stellen ersetzen. Die Bilder von Flüchtlingen vor dem Lageso seien „beschämend“.

Der Senat müsse das Studieren von Flüchtlingen ermöglichen, wie er dies ja beschlossen habe. Man sehe mit großer Sorge, dass manche Bürger Fremdenfeindlichkeit verbreiten würden und Rassismus predigen. „Sie wollen unser Miteinander stören.“ Gemeinsam müsse die Politik deutlich machen: „Jetzt ist die Stunde der Pragmatiker gekommen, nicht der Panikmacher.“ Dazu gehöre, auch kritisch auf seine eigene Wortwahl zu achten.

Die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen sei eine nationale Aufgabe. „Wir brauchen einen Flüchtlingspakt für Deutschland und für Berlin.“ Der Bund müsse sich dauerhaft strukturell an den Flüchtlingskosten beteiligen. 250.000 Anträge würden beim Bundesamt für Migration liegen. Pop plädierte dafür, Asylverfahren „sinnvoll zu entlasten“ und ein Einwanderungsgesetz zu installieren. „Wir brauchen eine gute Integrationspolitik“; sagte Pop.

Wie viele Flüchtlinge nach Berlin kommen, könne nicht gesagt werden

Es sei „unsere humanitäre Pflicht“, es sei ein „Gebot der Menschlichkeit, diesen Menschen, die vor Krieg und Terror, die vor Gewalt und lebensbedrohenden Zuständen aus ihren Heimatländern fliehen, hier willkommen zu heißen“, sagte CDU-Fraktionschef Florian Graf.

Das Bundesamt für Migration rechne mit 800.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen werden. Es sei jedoch schwer absehbar, eine Zahl für Berlin zu nennen. Die Aufgabe sei es, die Flüchtlinge unterzubringen. Die Klärung der Asylverfahren müsse schneller als bisher erfolgen. Der Senat habe einen Notfallplan präsentiert, um den zusätzlichen Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Graf hob das deutsche Asylrecht hervor. „Für uns gilt: Die Menschenwürde eines jeden Einzelnen ist unantastbar“, sagte Graf. Es gebe „keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen“.

Kritik kommt von den Linken und den Piraten

Leichte Unruhe kam im Parlament auf, als Graf betonte, die Liste der sicheren Herkunftsländer um Kosovo, Albanien und Montenegro zu erweitern. „Wir brauchen deshalb eine zentrale Erstaufnahmestelle, ein Ausreisezentrum, für die Flüchtlinge aus dem Westbalkan.“ Der Protest der Grünen hielt sich jedoch in Grenzen: Offiziell lehnen die Grünen die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer ab. Vor einem Jahr hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im Bundesrat der Einordnung von Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsländer zugestimmt und damit massive Verstimmung in der Bundesspitze und in den Ländern ausgelöst.

Kritische Töne waren bei Linksfraktionschef Udo Wolf zu hören. Man sollte den „überparteilichen Gestus nicht überstrapazieren“. In einer Sache sei man sich jedoch einig. „Zu zeigen, was anständige Menschen tun können.“ Gäbe es aber die bürgerschaftliche Willkommenskultur nicht, sehe es in Deutschland „ganz, ganz finster“ aus. Unbürokratische Hilfe zu leisten habe die Politik dagegen nicht geschafft. „Warum schafft es das wohlhabende Deutschland nicht, Flüchtlinge angemessen aufzunehmen“, fragte Wolf. „Ist die Überforderungsrhetorik nicht ein wenig unangemessen?“ Die Situation sei nicht über Nacht entstanden. Berlin hangele sich von Notprogramm zu Notprogramm. Ein „nachhaltiges Flüchtlingskonzept“ fehle, wandte er sich an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD). Medizinische Versorgung der Flüchtlinge sei zum Beispiel „elementares Handwerk“. Man dürfe auch Fehler machen. Aber man müsse daraus lernen.

Piraten sprechen von "Chaos im Senat"

Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Flüchtlingen dürfe es nicht geben. Warum würden Flüchtlinge, die aus Ungarn kommen, in Berlin erkennungsdienstlich behandelt? „Was ist das für eine Willkommenskultur“, fragte Wolf. Wo bleibe die Abarbeitung von Listen möglicherweise geeigneter Gebäude zur Flüchtlingsunterbringung, die angekündigte Chipkarte für die Gesundheitsversorgung? Der Senat müsse „endlich die Erfüllung der Aufgaben in den Griff kriegen“. Es müsse doch auch in Berlin möglich sein, ein Prozent seiner Bevölkerung noch mehr aufzunehmen.

Es habe den Anschein gegeben, dass der Senat eine Wende in der Flüchtlingspolitik gemacht habe, sagte Piraten-Fraktionschef Martin Delius. Vom Flüchtlingskonzept sei nicht mehr viel übrig geblieben, von der Prämisse „keine Zelte“ sei man abgekommen. Wie solle das „Chaos im Senat“ beseitigt werden?

Flüchtlinge hätten Rechte, die nicht erfüllt werden. Gäbe es ehrenamtliche Bürger und Hilfsorganisationen nicht, hätte man in Berlin schon eine „Flüchtlingskatastrophe“. Das staatliche System habe augenscheinlich versagt. Delius wie auch die anderen Fraktionschefs betonten, die Beschlagnahmung der ehemaligen LBB-Zentrale in der Bundesallee sei völlig richtig gewesen. Aber Hangars in Tempelhof zu Unterkünften zu machen, sei aufgrund der mangelnden Ressourcen nicht realistisch. Delius forderte menschenwürdige Unterkünfte und eine dezentrale Unterbringung.

Michael Müller: "Wir sind weit von einer Katastrophe entfernt"

Die Piraten forderten in einem Antrag, die berlinovo Immobilien Gesellschaft mbH in die Pflicht zu nehmen und dringend benötigten Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Delius plädierte für einen Hilfsstrukturfonds, der mit einem dreistelligen Millionenbetrag ausgestattet werden müsse.

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) meldete sich in der Fragestunde zu Wort. Wenn es so wäre, dass nur dieser Senat nicht rechtzeitig reagiert, müssten wir bundesweit eine andere Situation haben. „Alle Ministerpräsidenten haben die gleichen Probleme“, sagte Müller. Bundeweit überlege man, wie schnell Hilfe geleistet werden könne. Dafür bedanke er sich sehr. Und niemand habe zurzeit einen „Königsweg“ bei den vielen Problemen. Auf die Frage der Piratenfraktion, warum er keine Regierungserklärung abgegeben habe, erinnerte er an die Fachzuständigkeit des Sozialsenators.

Gemeinsam habe man über soziale Problem der Stadt noch vor drei Monaten diskutiert, die nichts mit Flüchtlingen zu tun hätten wie zum Beispiel die Wohnungsproblematik in einer wachsenden Stadt. „Das ist nicht weg. Wir müssen auch weiter darum kämpfen, die Menschen auch in Arbeit zu bringen.“ Aber man sei weit „von einer Krise oder Katastrophe“ entfernt. Menschen aus Kriegsgebieten könne man „immer noch gut hier helfen“. Und es sei richtig, dass die Senatoren ihre jeweilige Arbeit machen würden. Czaja betonte in der Fragestunde, dass auch nicht registrierte Flüchtlinge in den Unterkünften untergebracht worden seien. In der Bundesallee 171 wird künftig die Flüchtlingsaufnahme organisiert mit geschützten Wartebereichen. Auch die medizinische Versorgung soll dort erfolgen.

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