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Flugzeug fliegt knapp über einem Haus in der Einflugschneise vom Flughafen Tegel.

© ddp

Flughafen Tegel in Berlin: Wohnen in der Einflugschneise: „So ein Ding könnte mal runterkommen“

Der Flughafen Tegel könnte auch nach Eröffnung des BER weiterbetrieben werden, diskutieren die Gesellschafter. So leben die Anwohner weiter mit dem Fluglärm und der Furcht vor einem Absturz. Vor vier Jahren war bei vielen die Erleichterung groß, dass Tegel bald schließen sollte.

Wenn der neue Hauptstadtflughafen BER im Jahr 2017 tatsächlich eröffnet, wird er schon zu klein sein. Im Kreis der Gesellschafter wird daher darüber diskutiert, den Flughafen Tegel länger zu betreiben - mehr dazu hier. Unser Reporter Armin Lehmann ist neben dem Flughafen aufgewachsen und war 2011 unterwegs, um herauszufinden, wie die Anwohner in der Einflugschneise mit dem Geräuschpegel umgehen. Anlass war damals die Diskussion über die Flugrouten für den neuen BER, der damals noch vor allem BBI genannt wurde - Berlin Brandenburg International. Der Text erschien am 15. Mai 2011.

Das Thema spielte keine Rolle, Eltern und Sohn haben nie darüber gesprochen, bis der Sohn Vater wurde und die frisch gebackene Oma irgendwann Tomaten auf dem Balkon pflanzte. „Diese Tomaten“, rief der Sohn, „wirst du meinem Kind nicht geben. Die sind doch vom Kerosin verseucht.“ Oma und Opa dachten, jetzt spinnt er, doch sie sagten nichts, und wenn der Enkel bei ihnen übernachtete, bekam er die Tomaten doch. Die Eltern erzählen die Geschichte auf ihrem kleinen Balkon in der Reginhardstraße in Reinickendorf, dritter Stock, knapp fünf Kilometer Luftlinie vom Flughafen Tegel entfernt.

Mir, dem Sohn, sind die Tomaten heute peinlich. Seit über 40 Jahren wohnen die beiden in der Einflugschneise des Flughafens Tegel, aber den Lärm, sagen sie, den haben sie immer so hingenommen. Im Süden Berlins wird heftig über die neuen Flugrouten gestritten, aber hier im Norden störe der Lärm sie schon lange nicht mehr, sagen sie. Auf einer Liveplattform der Deutschen Flugsicherung im Internet kann man sehen, dass die hereinkommenden Flugzeuge rund 400 Meter hoch sind, wenn sie an der Eigentumssiedlung vorbeikommen, 900 Meter sind sie hoch, wenn sie sich im Steigflug aus der Stadt heraus befinden. Rein oder raus, das hängt von der Windrichtung ab.

Er zählt die Sekunden, bis das Flugzeug vorbei ist

Über dem Balkon dröhnt gerade wieder ein Flugzeug in Richtung Osten hinweg. Um diese Uhrzeit, zwischen zehn Uhr und elf Uhr morgens, kommen die Flieger alle drei Minuten. Je nachdem, wie groß sie sind, hört man sie im Freien zwischen 20 und 40 Sekunden lang. Aber man kann sich weiter unterhalten. 1963, als der Vater die Wohnung kaufte, war Tegel noch kein Luftdrehkreuz, aber erste Linienflüge gab es schon. Über Fluglärm habe er sich keine Gedanken gemacht, er zählt die Sekunden, bis das nächste Flugzeug vorbei ist, dann sagt er: „Hör doch mal, ist wirklich leise.“

Mit seinem ältesten Enkel steht der Opa abends oft in der dunklen Küche am Fenster und dann warten sie, bis zwei neue Lichtpunkte am Horizont auftauchen und wie ein rot blinkendes Ungeheuer näherkommen. Der Opa erzählt immer, wie er während der Berlin-Blockade auf dem Balkon im vierten Stock der Wohnung seiner Tante stand. Dort oben am Ende der Neuköllner Allerstraße und so nahe am Flughafen Tempelhof habe er gedacht, „gleich kann ich die Rosinenbomber berühren“.

An ihrer Straße in Reinickendorf entlang verlief ungefähr die Grenze, ab der der Senat nichts mehr für Schallschutzfenster bezahlte, 1981 hat die Eigentümergemeinde dann beschlossen, diese Fenster selbst einzubauen. „Seitdem ist drinnen Ruhe“, sagt die Oma. Jetzt flüchtet sie nur wegen des Autolärms vom Balkon. Der Opa sagt, „diejenigen, die im Süden protestieren, die sollen mal hierherkommen, dann würden sie sehen, dass das Geräusch gar nicht so schlimm ist“.

"Gar nicht so schlimm" definiert jeder anders

Aber was „gar nicht so schlimm“ heißt, definiert jeder anders. Diese Meinung muss hier in der Gegend nicht die Regel sein, vielleicht ist sie nur ein Beispiel für Anpassung oder für die Einsicht, man könne bestimmte Dinge sowieso nicht ändern. Spaziert man entlang der Einflugschneise näher in Richtung Flughafen, finden sich einige andere Bewohner, die sich nicht nur mit dem Lärm abgefunden haben, sondern auch ein bisschen mit ihrer Gelassenheit angeben. Da ist das Rentnerpaar W., das seit 1994 ein paar hundert Meter weiter südlich der Reginhardstraße wohnt und bei gutem Wetter immer auf seiner winzigen Terrasse im Parterre sitzt. Der auslaufende Schall ist hier schon deutlich lauter, aber der Mann sagt, „so schnell, wie die weg sind, stört das doch keinen“. Er gucke nur aus Neugier hoch, um den Maschinentyp herauszufinden. W. meint: „Alle wollen fliegen, aber keiner will den Lärm. Dann müssen wir eben alles untertunneln.“

Wieder einen halben Kilometer weiter in der Residenzstraße bleiben nicht einmal die Kinder stehen, um in den Himmel zu gucken. Flugzeuge gehören hier zu den normalen Verkehrsteilnehmern wie Autos oder Busse. Die Kioskbesitzerin an der Ecke wohnt seit 25 Jahren hier und sagt: „Die Mieten sind günstig, und sie glauben gar nicht, wie schnell man sich an die Flugzeuge gewöhnt.“ Eine ältere Dame kauft eine Zeitung und mischt sich ins Gespräch ein: „Wenn es ruhig ist, bekomme ich einen Schreck und denke: Was ist los?“ Dann zwinkert sie cool wie ein Jugendlicher und humpelt davon.

Wenn ein Flugzeug vorbeidonnert, krallt er die Hand in den Arm - er merkt das nicht

Die Residenzstraße ist immer noch knapp vier Kilometer entfernt vom Flughafen, und erst am Kurt-Schumacher- Platz wächst das Gefühl der Bedrohung. Hier in der Nähe fallen schon mal Dachziegel herunter oder vibrieren alte Fenster. Der Platz selbst, ein Verkehrsknotenpunkt, ist einer dieser merkwürdigen Orte Berlins, an denen man Hässlichkeit mit Denkmalschutz belohnt hat. Das Hotel Bärlin & Pension am Kutschi etwa ist ein denkmalgeschütztes Gebäude aus den fünfziger Jahren, bei dessen Anblick man nicht ans Verweilen denkt. Aber wie funktioniert ein Hotel, aus dessen Fenstern man startenden Maschinen fast ins Cockpit gucken kann? „Genau deshalb“, sagt Julia Goldhahn an der Rezeption und beteuert, dass man immer gut gebucht sei. „Die Nähe zum Flughafen ist unser Plus.“ An der Rezeption sind die Fliegergeräusche ein dumpfes Raunen, in den Zimmern ist es noch leiser. Im Internet aber finden sich viele Beschwerden.

"Wenn Freunde zum Grillen kommen, sind die schnell wieder weg"

Man kann noch näher heranrücken an den Flugplatz, vorbei an der Busendhaltestelle hinterm U-Bahnhof läuft man in die Meteorstraße hinein bis hoch zur Venusstraße. Dort sieht man schon den Towerk, und wenn es dunkel wird, blitzen die Lichter der Landebefeuerungen in die Fenster. Horst Titius lebt seit 45 Jahren hier. Das Haus seiner Schwiegereltern auf knapp 600 Quadratmeter Grund stand schon lange, bevor es einen Verkehrsflughafen gab. Als er kam, hat er Titius und seine Frau über die Jahre psychisch belastet. Draußen auf der Terrasse muss das Gespräch alle paar Minuten unterbrochen werden, denn dann hört man sein eigenes Wort nicht mehr.

„Wenn Freunde zum Grillen kommen, sind die schnell wieder weg“, sagt Titius. Hund Daisy sei der Lärm schnuppe, aber ihre Katze sei verrückt geworden. 22 Jahre hat Titius im Behring-Krankenhaus gearbeitet, aber irgendwann haben die Kollegen zu ihm gesagt: „Mensch Horst, beim kleinsten Krach zuckst du zusammen. Was bist du so nervös?“ Da wusste Titius, er ist krank, und ging in Frührente.

Als der Vulkan auf Island ausbrach, fühlten sie sich wie im Paradies

Wenn man sich mit dem 67-Jährigen unterhält und ein Flugzeug donnert vorbei, krallt er die linke Hand in den rechten Arm. Er merkt es nicht, und wenn man ihn darauf anspricht, kann er nicht sagen, warum er das macht. Irgendwann ist die Angst in ihn hineingekrochen. Meist sitzt er im Haus, wo der Lärm zu ertragen ist, und malt Bilder von Menschen mit traurigen Blicken. Als im April 2010 auf Island der Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach und die Aschewolke den Flugverkehr lahmlegte, fühlten sich Horst Titius und seine Frau wie im Paradies. Einmal ist er in die Nähe des Flughafens Schönefeld zu Freunden gefahren und fand, dort sei „doch eher Frieden, kein Lärm“. Titius sagt, er könne jeden Betroffenen verstehen, dass der sich sorge, um den Preis seines Grundstücks, das Lebensgefühl, die Gesundheit. Aber in Zehlendorf oder Potsdam, sagt er, flögen die Maschinen doch hoch.

Hoch ist nicht für alle hoch genug. Und nicht immer löst allein der Lärm etwas aus. Auf dem Balkon hatte der Vater noch beiläufig etwas verraten. Als er Rentner wurde und öfter auf dem Balkon sitzen konnte, habe er auf einmal Angst bekommen, dass die Flugzeuge abstürzen. Er wundert sich über sich selbst, doch diese Angst ist geblieben.

2012, wenn der Flughafen Tegel geschlossen wird, will Horst Titius ein Feuerwerk veranstalten. Dann, sagt er, werde nicht nur der Lärm weg sein, sondern auch seine permanente Furcht, „so ein Ding könnte mal runterkommen“.

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