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Fluglärm-Protest am Müggelsee: Inventur der Empörung

Am Montag wird Friedrichshagen die 100. Demo gegen die Flugrouten erleben. Aus der wilden Wut ist eine routinierte Mahnwache geworden. Zwei Jahre Protest – was bedeutet das, was macht das mit den Menschen?

Klaus Wowereit wird nicht mehr kommen.

Als der Protest zu schwellen begann, vierte Montagsdemo, 25. Juli 2011, stand der Regisseur Leander Haußmann auf der Bühne am Marktplatz und forderte ihn auf, seinen Arsch endlich nach Friedrichshagen zu heben. „Sei ein Meister der Bürger“, sagte Haußmann. 2500 Menschen jubelten, Volksfeststimmung. Luftballons.

Wowereit verstand das nicht als Einladung. Haußmann wurde wenig später aus dem Roten Rathaus ausgeladen. Er hat danach einen Film über den Müggelsee gemacht. Hai-Alarm. Es ist sein persönlicher Beitrag zum Friedrichshagenprotest, zum Flugroutenirrsinn. Damit, sagt Haußmann, sei doch alles gesagt.

An diesem Montag, kurz vor sieben, fährt er mit seinem Fahrrad eher zufällig über den Marktplatz an der Bölschestraße, den Korb voller Einkäufe, auf dem Weg nach Hause. Ein paar Männer, die gerade ihr Transparent am Sockel des Alten Fritz anbringen, grüßen. Er grüßt zurück. Ob er später noch kommt, will man von ihm, dem Bühnenmenschen, wissen. „Klar, Sie finden mich nachher in der Masse.“ Dann fährt er weiter.

Es gibt keine Bühne mehr, auf die er sich noch stellen könnte, keine Menge, die ihm noch zujubeln würde. Aus der Montagsdemo ist eine Mahnwache geworden. Einhundert Menschen, eine Stunde. Auch Leander Haußmann kommt nicht mehr.

Ralf Müller ist immer noch da.

Er steht neben dem Alten Fritz, in der Hand die Worte für später, und sagt: „Ich habe mich auf einen Boxkampf über 15 Runden eingestellt. Da mache ich doch jetzt nach der zweiten nicht schlapp.“ Ralf Müller zählt seine Runden dabei in Jahren, das muss man wissen, um ihn und seinen Kampf besser zu verstehen.

Es ist April 2011, als er hellhörig wird.

Zu jener Zeit, erinnert Müller sich, tauchen nach einer Sitzung der Fluglärmkommission in den Tageszeitungen neue Routenskizzen auf. Darauf auch, als eine Option, die Müggelseeroute. Nichts Offizielles: „Aber es gab den Kaffeesatz, aus dem wir lasen.“

Friedrichshagen war bis dahin, bis zum April 2011, auf den Lärmkarten des Flughafens Schönefeld ein weißer Fleck. Weiß bedeutete Idylle, weiß bedeutete: Den Krach haben die anderen. Mit der Müggelseeroute würde sich das ändern. Friedrichshagen wird unruhig. Und Ralf Müller gründet die Friedrichshagener Bürgerinitiative, kurz FBI. Aus einer Ahnung heraus, einer Befürchtung, und weil sich Ralf Müller, so sagt er das, in seiner Planerseele verletzt fühlt.

Müller, 49 Jahre alt, Studium der Architektur, verdient sein Geld als Planungskoordinator für Hochbauten. Er denkt in Zahlen, in Strukturen. Bei Ralf Müller müssen die Dinge einen Sinn ergeben. Eine Flugroute über den Müggelsee, über Friedrichshagen, ergibt für ihn keinen Sinn. Das ist, was ihn antreibt. Denn eigentlich ist er kein Kämpfer, kein Maschinenstürmer. Er, Schankwirt-Schnauzer im runden Gesicht, strahlt die Gemütlichkeit eines Mannes aus, der es sich in seinem Leben bequem gemacht hat.

Am Mittag des 4. Juli 2011 werden die neuen Routenvorschläge der Deutschen Flugsicherung auch offiziell bekannt. Nach der Eröffnung, heißt es jetzt, sollen die von der Nordbahn startenden Maschinen bei Ostwind in etwa 1000 Metern Höhe über den Müggelsee fliegen. „Zehn Jahre hieß es, die Routen gehen in einer doppelten Südabkurvung von der Stadt weg“, sagt Müller. „Mehr als zehn Jahre konnten wir uns in Sicherheit wiegen, vom Fluglärm verschont zu bleiben.“ Nun aber liegen sie mittendrin.

Sobald Müller über den BER spricht, weicht das Sanfte aus seinen Zügen: „Wer einigermaßen etwas von Planungsrecht versteht, dem stehen da die Haare zu Berge.“ Die Planerseele schreit.

Spontan versammeln sich noch am Abend des 4. Juli ein paar hundert Menschen auf dem Marktplatz. Die erste Montagsdemo. Und Ralf Müller, der immer an die doppelte Südabkurvung geglaubt, den Zahlen vertraut hatte, greift zum Mikrofon und hält, zum ersten Mal in seinem Leben, die Hände feucht, Wut auf den Lippen, eine öffentliche Rede.

Am kommenden Montag wird Friedrichshagen die 100. Demo erleben. Eine unfassbare Zahl, sagt Müller. Einhundert Montage, zwei Jahre. Es ist eine sachliche Inventur der Empörung. Aber was bedeutet das eigentlich wirklich, zwei Jahre Protest? Was macht das mit den Menschen?

Aus Ralf Müller ist ein Redner geworden. Keine Schweißausbrüche mehr, keine Hemmungen. Müller fühlt sich wohl in seiner öffentlichen Haut: „In den besten Momenten hat das schon etwas von politischem Kabarett. Es gab ja genügend Gelegenheiten, die Offiziellen abzuwatschen. Das macht schon Spaß.“

Sieben Uhr, Mahnwachenzeit. In Ermangelung einer Bühne dient ein flacher Tisch als Podium. Viel mehr braucht es nicht. Der Marktplatz ist leidlich gefüllt. Alles sehr familiär. Hände werden geschüttelt. Unmittelbar vor und hinter einer Bollerwagenregalkonstruktion mit Lautsprecheranlage stehen die Männer und Frauen, die immer hier sind, wie Müller Mitglieder des Sprecherrats der FBI. Mahner und Wacher: Da ist der Bauingenieur, der aus dem nahen Müggelheim nach Friedrichshagen gezogen ist, um den Flugzeugen zu entfliehen, und nun von den Flugzeugen eingeholt wurde. Die Vorsitzende des Bürgervereins Friedrichshagen, die sich, jahrelang Denkmalschützerin, seit der Bekanntgabe der Müggelseeroute auch für die Hygiene des Luftraums verantwortlich fühlt. Ein Mediziner, der die neuesten Ergebnisse zu fluglärmbedingten Krankheits- und Todesfällen zusammengetragen hat. Und da ist Heinz, 70 Jahre alt, Rentner, der eigentlich nicht Heinz heißt, seinen richtigen Namen jedoch nicht in der Zeitung lesen möchte. Denn Heinz ist schlaflos. Darüber aber will er erst später sprechen. In Ruhe. Wenn die Mahnwache vorüber ist.

Jetzt stellt sich Heinz zu den anderen und schaut zu, wie Müller, weißes Hemd unter einem Khaki-Anorak, Camouflage des Chefabwatschers, auf seine Bühne steigt, die keine mehr ist.

Hallo zusammen. Zum lockeren Warmwerden gibt es erst mal Feindbeobachtung, gibt es die neuesten Zitate des BER-Pressesprechers Ralf Kunkel, der hier in Friedrichshagen ähnliche Sympathiewerte erreicht wie der Fluglärm selbst. Müller, Reizwortjongleur: Die Vernunft der Mehrheit gegen den Eigensinn radikaler Egoisten, liest er. Es gibt Pfiffe.

Wenn Kunkel nach Friedrichshagen kommt, ruft einer, dann brauchen wir Security. Nein, antwortet ein anderer, Eier und Tomaten.

Der Gegner sind "die da oben", und gemeint sind nicht die Flugzeuge.

Müller nutzt die weitere Redezeit für ein paar Evergreens des Protestvokabulars: Lug- und Trughafen. Das ist von ihm. Applaus. Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Das ist von Brecht. Noch mehr Applaus. Bevor er vom Rednertisch steigt, sagt Müller dann aber noch zwei Sätze, die verraten, dass sich auch der Protest selbst verändert hat: „Bei all den Tricks der Politiker und Verantwortlichen kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass nicht auch die Bürger zu Mitteln des zivilen Ungehorsams greifen. Die rote Linie ist überschritten, der soziale Frieden in Gefahr.“ Es sind Sätze, die sich nicht an das Publikum richten, sondern direkt ans Rote Rathaus, ans Abgeordnetenhaus, an den Aufsichtsrat des BER.

Um kurz nach acht, die Mahnwache zu Ende, läuft Ralf Müller vom Marktplatz in Richtung des FBI-Hauptquartiers. Gemessenen Schrittes. Die Abendluft weht vom nahen See herüber, es dämmert. Bald kommen die ersten Ausflügler nach Friedrichshagen. Es ist ein Spaziergang durch ein Gefühl, das die einen als Heimat, die anderen als Idylle beschreiben. Und während er dieses Gefühl durchmisst, sagt Müller: „Ich selbst habe jetzt nicht das große Problem mit Fluglärm, ich bin jetzt auch nicht jemand, der sofort seine Koffer packt, wenn die ersten Flieger über den Müggelsee gehen.“ Kurze Pause, Heimatblick. „Wenn das eine Autobahn wäre, würde ich es genauso machen, es geht mir hier um die Verschleierung, den gefühlten Betrug am Bürger.“ Nun ist es die Bürgerseele, die schreit.

Im Hauptquartier der FBI, schmuckloser Konferenzraum in einem schmucklosen Flachbau mit rosa Anstrich, tagt der Sprecherrat. Nachbesprechung. Tagesordnungspunkt eins, fragt der Protokollant in die Runde.

Wowereit abwählen. Gelächter.

Tagesordnungspunkt zwei?

Platzeck abwählen. Stühlerücken. Noch mehr Gelächter, das von den Wänden zurückgeworfen wird, an denen Plakate hängen. Ein visuelles Echo des Gesagten, eine Dauerausstellung des Protests. Da sind zum einen die Flugzeuge, durchgestrichen. Flugzeuge im Warndreieck. Zum anderen aber, wichtiger noch, die Köpfe: Wowereit, Platzeck, Ramsauer. Drei Affen, Strichmännchen, Pappkameraden mit leeren Blicken.

Wowereit abwählen, Platzeck abwählen, kein Scherz. Während die Flugzeuge als diffuse Bedrohung am Horizont, als kommendes Unheil, zunehmend in den Hintergrund treten, sind „die da oben“ der eigentliche Gegner. Eine Macht, gegen die sie einen erbitterten Papierkrieg führen. Mit Gutachten, in die sich Müller und die anderen eingelesen haben, Nächte versunken im Treibsand der Bürokratie. Mit Briefen und Schriftsätzen. Briefe an Ämter, an Mehdorn, an die Flugsicherung. Briefe am Rande der Verzweiflung. Dieser Papierkrieg kostet Zeit, kostet Kraft. Er kann denjenigen, der ihn führt, ermüden. Oder er raubt ihm, wie bei Heinz, den Schlaf.

Er, Rentner, hat jetzt Zeit, noch mal in Ruhe zu erklären, was das mit einem macht, Protest, Papierkrieg, ganz viel mahnen, noch mehr wachen. Heinz, die Augen eines wachsamen Nachbarn hinter den Brillengläsern, die Farbe des Parkas dezent, Hemd, eine Figur wie aus dem Fundus eines 70er-Jahre Agentenfilms, sagt: „Ich gehe hundemüde ins Bett und liege dann bis nachts um dreie in den Laken und denke, jetzt haste an den Platzeck geschrieben, aber reicht das?“

So geht das seit Monaten. Nicht nur bei Heinz. Es gibt Mitglieder der FBI, die es nicht mehr auf den Marktplatz schaffen. Burnout, sagt Heinz. Das ist seine persönliche Diagnose. Und die Ursachen kennt er natürlich auch. Denn im Grunde ist Heinz das Muster für den Friedrichshagener Protest. Er, aufgewachsen in Ost-Berlin, hat 28 Jahre in der Nähe von Frankfurt am Main gelebt. Nicht weit entfernt vom Airport, Drehkreuz, Lärmmonster. Vor einiger Zeit dann hat es ihn zurückgezogen nach Berlin. Er hat sich damals für Friedrichshagen entschieden, weil Friedrichshagen, weißer Fleck auf den Karten des Lärms, ein Versprechen war auf einen Lebensabend ohne die Begleitmusik der Turbinen. Dann wurde es April 2011 und Heinz, das kann doch alles nicht wahr sein, schloss sich der FBI an.

Nun sagt er, müde, ohne Schlaf: „Auf der einen Seite ist da der emotionale Stress, der drohende Verlust der Heimat, den hier viele als existenziell empfinden.“ Heinz hält kurz inne, holt aus seiner Manteltasche ein Dokument, das er im Internet gefunden und in dem er sich einige Sätze farbig markiert hat. Schlechte-Nacht-Lektüre. „Und dann ist da noch die physische Belastung, wenn sie nachts bis um elf gesessen, Kampagnen aufgebaut haben und sich danach fragen, was können wir überhaupt noch machen.“

In seinem Postfach liegen Hunderte ungeöffneter Emails. Fluglärmspam. Bei seinen Mitstreitern sieht es nicht anders aus, sagt Heinz. Das frisst Zeit, zieht Energie. Ist der Protest, wie Heinz ihn beschreibt, doch vor allem ein ehrenamtlicher Dauerlauf im Hamsterrad der unbeantworteten Fragen. „Die Erschöpfung setzt ein, weil man als Bürger versucht, konstruktive Lösungen zu finden.“ Kopfschütteln. „Doch da kommt nichts, und dann kommt Frust. Und das alles führt zu einer Politikverdrossenheit, die krank macht.“

Am Ende ist das, nach zwei Jahren Montagsdemo, die große Ironie des Protests, dass der Kampf gegen den Fluglärm, bei denen, die ihn kämpfen, zu den gleichen Symptomen führt, wie sie der Fluglärm mit sich bringen könnte. Das ist die Pointe in Heinz’ Geschichte.

Er lacht nicht. Sagt aber noch: „Man muss wissen, worauf man sich einlässt.“

Eine letzte Straßenbahn ruckt durch die Bölschestraße. Darauf ein Schriftzug in Lila und Gelb. Germanwings. Als sie sich entfernt hat, legt sich Stille über den Marktplatz.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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