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Folge 11: Hirntumor: Seltsam vertrauter, fremder Anblick

Der Schädel wird geöffnet, um einen Hirntumor zu entfernen. Wenn der Chirurg bei der Operation zu viel verletzt, verliert sein Patient vielleicht das Gedächtnis.

Irgendwann im Laufe der Operation wird Peter Vajkoczy von einem „hinterhältigen System“ sprechen. Dann wird er sich etwa fünf Zentimeter in das Gehirn seines Patienten voroperiert haben, der an einem großen Tumor leidet. Warum hinterhältig? In unmittelbarer Nähe der Geschwulst versteckt sich ein wichtiges Blutgefäß unter einer der großen Versorgungsadern, die Vajkoczy sorgfältig aus dem Hirngewebe herausschält, um sie nicht zu verletzten. Hätte er dieses kleine Gefäß dahinter übersehen und durchtrennt, wäre ein Hirnschlag die Folge, halbseitige Lähmungen oder der Verlust der Sprachfähigkeit. Doch Vajkoczy ist auf solche Hinterhältigkeiten vorbereitet. Der Direktor der Neurochirurgischen Klinik der Charité ist auf schwierige Operationen spezialisiert.

Vajkoczy, schlank, hochgewachsen, 39 Jahre alt – sehr jung für einen Professor und Chefarzt. Mit seinen jungenhaften Gesichtszügen, den hellwachen blauen Augen und dem lockigen, halblangen Haar wirkt er eher wie ein Medizinstudent im letzten Semester als wie ein erfahrener Hirnchirurg. „Manchmal sind die Patienten etwas überrascht, wenn sie mich sehen“, sagt er lächelnd. Doch das legt sich, wenn sie erfahren, dass Vajkoczy in seiner Laufbahn bereits rund 350 Hirntumoren operiert hat und 450 Mal Eingriffe an Gefäßen ausführte, zum Beispiel, weil ein Hirnschlag drohte.

„Als Neurochirurg durchläuft man neben Höhen auch eine Menge Tiefen, da bleibt keine Legitimation für Überheblichkeit“, sagt der Arzt. Noch immer ist ein Hirntumor eine der gefährlichsten Krebsarten, nicht der Häufigkeit nach – da rangiert er mit jährlich rund 300 Neuerkrankten in Berlin nicht mal unter den zehn häufigsten Karzinomen – dafür aber, was die Überlebenschancen betrifft: Bei den bösartigsten Hirntumoren, die Mediziner Glioblastome nennen, liege die durchschnittliche Überlebenszeit mit der Standardtherapie bei etwa 15 Monaten, sagt Vajkoczy. Immerhin drei Monate länger als noch vor zehn Jahren. Aber trotzdem: nur 15 Monate. Weniger als ein Viertel der Patienten lebt drei Jahre nach der Diagnose noch.

Das hat vor allem einen Grund: Bei Operationen im Gehirn gibt es keinen „Spielraum“. Bei einem Tumor im Darm oder in der Brust entfernt der Operateur häufig auch ein wenig des nicht befallenen Gewebes um die Geschwulst herum, um sicher alle Krebszellen zu entfernen. Doch im Gehirn verbietet sich solche Großzügigkeit. Dort ist jeder Kubikmillimeter vollgepackt mit hunderten Neuronen, die wichtige Funktionen erfüllen. Eine Verletzung könnte verheerende Folgen haben, den Verlust von Erinnerungen zum Beispiel, eingeschränkte Sinnesfähigkeiten oder emotionale Störungen – je nachdem, in welcher Region die Geschwulst sitzt. „Zwischen 80 und 90 Prozent des Tumors herauszuholen, das ist richtig gut“, sagt Vajkoczy. Und das gelinge oft auch: Neun von zehn Operierten litten danach unter keinen langfristigen Beeinträchtigungen.

Dabei hängt viel von der Erfahrung und dem Geschick des Operateurs ab. Warum das so ist, dafür ist der Patient, den Vajkoczy gerade operiert, ein Paradebeispiel. Horst Wiese (Name geändert), 61, Geschäftsmann aus Berlin, hat einen glücklicherweise nur langsam wachsenden gutartigen Tumor im Kopf. Dieser hat sich im vergangenen Vierteljahr um gut zehn Prozent vergrößert. Er ist weniger aggressiv als ein Glioblastom – das sich binnen eines Monats verdoppeln kann –, und die Wahrscheinlichkeit, dass er nach der Entfernung wiederkehrt, ist sehr viel geringer. Und doch ist auch er gefährlich. Wird er nicht operiert, wächst er weiter, drückt immer stärker auf das Gehirn. Neurologische Ausfälle werden zum ständigen Begleiter.

Wie sich so was anfühlt, hat Wiese vor einem halben Jahr zu spüren bekommen. Ein epileptischer Anfall, ohne Vorwarnung. Das trieb ihn zum Arzt. Die manchmal hartnäckigen Kopfschmerzen davor, die hat er noch ignoriert. Wer nimmt die schon ernst, wenn man so einen stressigen Beruf hat wie Horst Wiese und ständig durch die Welt jettet. „Plötzliche Krampfanfälle und anhaltende Kopfschmerzen sind häufige Symptome für einen Hirntumor“, sagt Vajkoczy.

Auf den Computertomograph-Bildern, die Wieses Schädel in virtuelle Scheiben zerteilen, zeichnet sich die Geschwulst als ein etwas dunklerer Fleck in der rechten Gehirnhälfte ab. Er sitzt in der Nähe des Schläfenlappens, hinter dem rechten Auge. Direkt am Hippocampus. Durchmesser: 4,5 Zentimeter, Golfballvolumen, aber oval geformt.

Der Kopf des Patienten ist unter den Operationstüchern verborgen. Ein kreisrundes Metallgestell fixiert den leicht nach links geneigten Schädel. Ein ovales Loch mit vielleicht sieben Zentimetern Durchmesser klafft in der Schläfe. Die normalerweise dort befindliche Haut und das darunterliegende Muskelfleisch sind in Richtung Stirn aufgeklappt. Vajkoczy hat das mit einem winzigen Trennschleifer komplett herausgesägte Stück Schädelknochen in einer Metallschale auf dem OP-Beistelltisch deponiert. Die pergamentene Hirnhaut ist ebenso wie das Fleisch nur hochgeklappt. Darunter wird ein Stück Gehirn sichtbar. Ein seltsamer Anblick. Die weißlich-gelbliche Oberfläche, durchzogen von geschwungenen Furchen – Mediziner nennen das Fissuren – und übersät mit millimeterdünnen Äderchen, hat man schon so oft als Modell oder Foto gesehen. Es erscheint vertraut. Gleichzeitig aber ist es so fremd: Das da ist ein echtes Gehirn eines Menschen, jener komplexe und so viele Geheimnisse bergende anderthalb Kilogramm schwere Eiweißklumpen, in dem das sitzt, was uns ausmacht: Gefühl, Gedanke und Gedächtnis. Der Arzt aber sieht jetzt darin nur ein krankes Organ, das operiert werden muss. Ehrfurcht, Angst gar vor einem falschen Schnitt darf da keinen Platz haben.

Am Kopfende des Operationstisches sitzt der Chirurg, arbeitet sich immer tiefer in den Schädel des Patienten hinein. Er nennt das „durchmogeln“, wenn er die tiefen Fissuren nutzt, um das gesunde Gewebe an der Hirnoberfläche zu umgehen, um an den darunter liegenden Tumor heranzukommen. Ohne technische Vergrößerung ist jetzt nur wenig zu sehen: Vajkoczy sieht durch das Okular eines Mikroskopes, der Beobachter auf einen großen Bildschirm. Für das ungeübte Auge ist das Tumorgewebe kaum von der unbefallenen Umgebung zu unterscheiden. Es scheint ein wenig grauer zu sein als die gelblich-weiße Struktur daneben.

Mit einem Ultraschallkopf, der aussieht wie ein schmaler Kugelschreiber, löst Vajkoczy das Tumorgewebe auf. Das zurückbleibende weiße Granulat bildet mit dem nachsickernden Liquor – einer wässrigen Flüssigkeit, in der das Gehirn schwimmt – und dem bisschen Blut aus verletzten winzigen Äderchen eine rötlich-weiße Suppe. Von den Farbnuancen zwischen dem kranken und gesunden Gewebe ist längst nichts mehr sichtbar. Woher weiß der Operateur nur, was weg darf und was bleiben muss? Der Tumor fühle sich anders an, sagt der Chirurg. Etwas zäher, ein wenig härter. Das könne man mit den Instrumenten erahnen.

„Jetzt nähert er sich dem Hippocampus“, flüstert ein Assistenzarzt. Das ist eine der evolutionsgeschichtlich ältesten Regionen des menschlichen Gehirns – und eine der wichtigsten für das Gedächtnis. Hier wird entschieden, welche Erinnerungen abgespeichert werden und welche für immer vergessen werden. Verletzte Vajkoczy diesen Teil zu stark – ein wenig ist nötig, denn auch hier muss er Tumorgewebe entfernen –, dann wäre unter Umständen der Beginn der Narkose das Letzte, an das sich Horst Wiese bis an sein Lebensende erinnern könnte. Aber auch ohne diese geflüsterte Anmerkung merkt der Beobachter schnell, dass es diffizil wird. Denn plötzlich schweigt der Chirurg, der sonst zwischendurch immer gerne etwas erklärt oder mit seinen Kollegen scherzt. Vajkoczy ist hoch konzentriert. Manchmal wirft er zur Orientierung einen Blick auf die Computertomograph-Bilder von Wieses Schädel, die im OP vor einer Leuchttafel hängen.

Nach drei Stunden ist die Operation fast vorbei. Der Weg zurück: Hirnhaut zurückklappen, vernähen. Der Krater darunter bleibt ein Leben lang, denn Gehirn wächst nicht wieder nach. Vajkoczy spritzt eine Kochsalzlösung unter die vernähte Hirnhaut, füllt so den Hohlraum übergangsweise aus, bis der körpereigene Liquor das übernimmt. Das geht schnell. Täglich bildet der Organismus rund einen halben Liter dieser Dämpfungsflüssigkeit fürs Hirn. Und warum das Kochsalz? „Dann wird der Patient schneller wach.“ Dann nietet Vajkoczy das herausgetrennte Stück Knochen fest. Auch die beiden Nieten werden im Körper bleiben. Und schließlich legt er Muskelfleisch und Haut wieder auf. Nähen. Fertig! Ein Teil der Geschwulst geht ins Labor, für die genaue Untersuchung der Tumorzellen. „ 85 bis 90 Prozent des Tumors werde ich erwischt haben“, meint Vajkoczy, als er sich vor dem OP-Saal die blaue Kleidung abstreift. Genau werde man dies erst zwei Tage später wissen, bei der Nachkontrolle mit der Kernspintomographie. Und auch dann wird nur ein Stück des Weges zur Heilung für Horst Wiese gegangen sein. Der Rest des Tumors in seinem Kopf muss unter Umständen mit anderen Methoden als dem Ultraschallkopf bekämpft werden: Chemotherapie oder Bestrahlung.

Auch Vajkoczy experimentiert mit Alternativen: Eines Tages, hofft er, werde man den Tumor „aushungern“ können, indem man die versorgenden Blutgefäße medikamentös unterbricht. Bis dahin bleiben Trennschleifer, Skalpell und Ultraschallkopf die Mittel der ersten Wahl.

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