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Folge 3: Herzschrittmacher: Computer in der Brust

Immer wieder hatte Martina Myrow Anfälle, bei denen sie das Bewusstsein verlor. Epilepsie, dachten die Ärzte. Doch Kardiologen entdeckten einen Herzfehler. Unter ihrem Schlüsselbein schlägt nun ein Herzschrittmacher, mehr als 3000 Berliner bekommen jährlich einen solchen Apparat eingesetzt

Ihr wird schlecht, denkt sie noch, und sie ahnt, was jetzt wieder kommen wird. Sie wird umfallen, in wenigen Augenblicken, und sie wird das später nur wissen, weil man es ihr erzählt hat. Sie selbst kann sich nicht erinnern. Wie gelöscht.

Seit ihrer Kindheit hat Martina Myrow diese Anfälle – mehrmals im Jahr. Epilepsie, sagte ihr Arzt zuerst. Sie dachte: ein Ritual, das sich ihr Körper mit ihr erlaubt, beängstigend einerseits, aber andererseits doch längst so vertraut, dass sie nichts lebensbedrohliches mehr dahinter vermuten muss. Dann ging sie zu einem Kardiologen, einem Herzspezialisten, um sich untersuchen zu lassen.

„Das nächste Mal sind Sie tot“, hieß es dort. Der Arzt hatte untersucht, ob ihr Herz regelmäßig schlägt, oder ob es Auffälligkeiten gibt. Sie bekam ein Langzeit-Elektrokardiogramm, kurz EKG, das 24 Stunden lang die Herztätigkeit misst und aufzeichnet. Martina Myrow sagt, sie könne von Glück reden, dass ihr dabei wieder übel wurde, sie umfiel und sich hinterher an nichts mehr erinnerte. So kam es heraus.

Das Herz ist ein biologisches Wunderwerk, etwa 70 Schläge in der Minute, mehr als 4000 in der Stunde, fast 40 Millionen im Jahr. Bei einem 70-jährigen Menschen hat es durchschnittlich drei Milliarden Kontraktionen hinter sich. Für diese Schläge gibt es einen Dirigenten, der den Takt vorgibt: den Sinusknoten. Der Dirigent bekommt Befehle aus dem Gehirn und dem zentralen Nervensystem, er wird von Stresshormonen wie Adrenalin beeinflusst (siehe obenstehende, vergrößerbare Grafik). Über bestimmte Leitungsbahnen – wie Kabel in einem Elektrogerät – wird der Befehl des Sinusknotens in alle Bereiche des Herzens weitergeleitet. Dadurch läuft die Muskelkontraktion der Herzkammern in einer bestimmten Reihenfolge ab.

Manchmal aber kommt der Takt ins Stottern. Nachdem der Kardiologe die Aufzeichnungen gesehen hatte, die das Kardiogramm von Martina Myrows Herzen gemacht hatte, überwies er sie ins Krankenhaus. Die Anfälle seien Synkopen, Bewusstseinsverluste, die Minuten andauern können. Diagnose: Herz-Rhythmus-Störungen. Eine Million Menschen sind davon bundesweit betroffen.

Jetzt hat Martina Myrow, 51 Jahre alt, Friseurin aus Pankow, eine zierliche Frau mit hennaroten Haaren, einen Herzschrittmacher. In ihrer Brust, unter dem Schlüsselbein sitzt ein Computer, kleiner als eine Streichholzschachtel. Er gleicht fehlende Impulse des Herzens aus. Sie solle sich keine Sorgen machen, hat ihr Arzt gesagt. Jörg Krimnitz, 46 Jahre alt, Herzexperte in der Maria Heimsuchung Caritas-Klinik in Pankow, hat Martina Myrow operiert.

Die Operation sei nicht sonderlich gefährlich, früher einmal vielleicht. Aber das sei lange her. Der Einsatz eines Herzschrittmachers ist heute ein Standardeingriff. „So etwas wird laufend gemacht, oft dauert der Eingriff nur eine halbe Stunde“, sagt Herzspezialist Olaf Göing, Chefarzt am Sana Klinikum Lichtenberg. In Deutschland leben mehr als 350 000 Menschen mit so einem künstlichen Taktgeber, wie ihn Martina Myrow trägt. Jedes Jahr kommen etliche hinzu, allein in Berlin sind es 3100. Die Träger eines Herzschrittmachers müssen in ihrem Alltag kaum noch Einschränkungen befürchten. Viele Patienten meiden zwar Starkstromanlagen oder Radarantennen. Ärzte bezweifeln aber, dass das nötig ist.

Die meisten Patienten mit einem Herzschrittmacher sind älter als 60, doch manche sind noch Kinder. Beim Arzt kam Martina Myrow mit einem Jugendlichen ins Gespräch, 17 Jahre alt, er wollte Leistungssportler werden. Auch er musste sich einen Herzschrittmacher einsetzen lassen. „Sport und Herzschrittmacher passen leider nur bedingt zusammen“, sagt Experte Göing. Ein Wettkämpfer muss seine Herzfrequenz in Sekundenschnelle stark erhöhen können: „Das könnte schwierig werden.“ Doch besser mit einem Minicomputer in der Brust leben, als in Lebensgefahr schweben.

Bei vielen Schrittmacherpatienten ist das Herz zu schnell gewesen, Herzrasen und Kammerflimmern sind die Folge. Bei manchen ist es zu langsam. Einer von zehn kommt mit einer lebensgefährlich niedrigen Herzfrequenz von 40 oder weniger Schlägen in der Minute in die Notaufnahme eines Krankenhauses.

Endlich haben sie was gefunden, dachte Martina Myrow im ersten Moment. Dann fing sie an zu heulen. „Das Schlimmste“, sagt sie, „ist, wenn man begreift, wie nahe man dem Tod war.“ Manche sacken beim Autofahren zusammen, der Wagen rast führerlos weiter. Oder sie sind zu Fuß unterwegs, fallen plötzlich hin, brechen sich etwas und erinnern sich an nichts. „In der Notaufnahme sind das Anzeichen, die auf einen Herzinfarkt hindeuten können“, sagt Jörg Krimnitz von der Caritas-Klinik.

Kurz bevor die Betroffenen ihr Bewusstsein verlieren, verspüren sie etwas Atemnot, ein Druckgefühl auf der Brust. Im Idealfall schüttet der Körper genügend Adrenalin aus, um das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Wenn sie Glück haben, ist in diesen Momenten jemand bei ihnen. Denn es kann um Minuten gehen. Zeit, die Ärzte brauchen, um eine sichere Diagnose zu stellen.

Die Operation selber geht dann zügig. Örtliche Betäubung, Vollnarkose eher selten. Skalpell, ein Schnitt, knapp zehn Zentimeter unter dem Schlüsselbein. Dort wird der Schrittmacher unter der Haut eingesetzt. Gucken Sie doch mal hin, sagte die Schwester. Oh Gott, nee, dachte Martina Myrow. Der Operateur formt aus der Unterhaut eine kleine Tasche, in die er das Aggregat steckt. Dann führt er die dazugehörigen Elektrodenkabel durch eine große Vene zum Herzen. Unter Röntgenstrahlen prüft er die Position der Elektroden, um sicherzugehen, dass er die kleinen Teile, auch Sonden genannt, richtig platziert.

Der Arzt verbindet die Elektroden mit dem Aggregat und näht sie auf dem darunterliegenden Muskelgewebe fest. Die Batterie eines Schrittmachers funktioniert sieben bis zehn Jahre, dann wird das Aggregat ausgetauscht. Nach der Operation, sagte Krimnitz, könne die Patientin wieder alles machen: „Aber fangen Sie langsam an.“ Sie hätte gar nicht anders gekonnt, sagt Martina Myrow. In der ersten Woche nach der Operation ist sie gerade von ihrem Bett bis zur Toilette gekommen. An manchen Tagen hat sie es kaum aus dem Bett geschafft. „Normalerweise geht das schneller“, sagt Sana-Chefkardiologe Göing. Viele Patienten brauchen heute nur noch ein paar Tage. Vorsichtig sollte man aber in jedem Fall sein.

Die erste Woche Reha in einer Brandenburger Klinik verbringt Martina Myrow vor allem an der frischen Luft. Von morgens acht bis mittags hat sie Programm: Wandern, Wassertreten, Fahrradfahren auf dem Ergometer. Ein warmer Sonntag, die Sonne scheint. Martina Myrow sitzt unter den Bäumen vor der Reha-Klinik auf einer Bank. Die Vögel zwitschern. Berlin, der Alltag, die Arbeit sind in diesem Moment weit weg.

Sie will ihr Leben etwas umkrempeln. „Ich muss lernen, ruhiger zu werden“, sagt sie. Dazu gehört auch, dass sie versuchen will, etwas weniger zu arbeiten. Sie hat schon mit ihrer Chefin gesprochen, die war einverstanden. „Ich habe Glück. Bei der Lage auf dem Arbeitsmarkt ist das ja nicht selbstverständlich.“ Sie streicht mit der Hand über die Stelle, an der der Schrittmacher sitzt. Sie könne ihn fühlen. Sie ist zierlich, Menschen mit viel Fettgewebe spüren ihre Schrittmacher kaum. Fachmann Göing kann beruhigen: Kaum ein Patient würde den Herzschrittmacher auf Dauer merken. „So dünn ist zum Glück kaum einer.“

Der Gedanke war Martina Myrow noch fremd, etwas Künstliches in sich zu tragen, sagte sie einmal. „So nah am Herzen. Und was, wenn das Ding plötzlich nicht mehr funktioniert?“ Schon bald denkt sie immer seltener daran.

Was bleibt, ist etwas anderes. Ein Rest Angst davor, alleine auf die Straße zu gehen. Sie weiß, es sollte nicht mehr passieren. Die Ärzte haben sie beschwichtigt. Und trotzdem: Jeder Anfall, das hat sich eingebrannt, könnte der letzte sein.

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