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Fast 1000 Gesichter hat Carsten Sander fotografiert. Manche kennt man, viele nicht.

© Thilo Rückeis

Foto-Ausstellung in Berlin: Ein Land in 1000 Gesichtern

Arm? Arrogant? Lustig? Wir sortieren Gesichter oft nach Stereotypen. Der Berliner Fotograf Carsten Sander entreißt sie ihrem Kontext – und zeichnet so ein Deutschlandporträt. Die letzten 50 sucht er noch.

Von Maris Hubschmid

Kann man es rücksichtsloser zusammenfassen als der Duden? „Das Gesicht ist die besonders durch Augen, Nase und Mund geprägte Vorderseite des menschlichen Kopfes vom Kinn bis zum Haaransatz.“ Dass manches Gesicht Fassade ist, ist ein altes Lied – aber Angesicht, Antlitz, meint das neben dem Existentiellen nicht immer auch das Wesentliche, das Wesen dahinter? Auge, Nase, Mund, Kinn und Haaransatz von Hans-Dietrich Genscher trennen Welten von Auge, Nase, Mund, Kinn und Haaransatz von Stefan Kretzschmar, und das nicht nur, weil Kretzschmars Nase länger ist und der Haaransatz von Genscher ein ganzes Stück weiter oben beginnt. Der Berliner Fotograf Carsten Sander hat sie beide fotografiert – und noch 948 andere Menschen: männliche, weibliche, ältere, jüngere, helle, dunkle Gesichter. 39 davon zeigt er von Donnerstagabend bis Sonntag im Französischen Palais, Unter den Linden. „Deutschland – deine Gesichter“, heißt sein Projekt, vor vier Jahren begonnen. Die Formel ist die gleiche, aber das Ergebnis ist jedesmal einzigartig.

Fotografiert hat Carsten Sander, 48, früher für die Werbung. Große Inszenierungen, opulente Ausstattungen. Irgendwann wurde es ihm mit der Oberflächlichkeit zu viel: „Ich habe mir gewünscht, wieder aufrichtige Botschaften zu transportieren, keine kommerziellen“, sagt er. 2006 zog er von Düsseldorf nach München, bald darauf weiter nach Berlin. Da sprangen sie ihn an: Diese Gesichter! Sander begann, sich der Stadt, die fortan sein Zuhause sein sollte, über ihre Gesichter zu nähern. Ein willkürlicher Querschnitt, zufällige Begegnungen: „Darf ich Sie fotografieren?“ Rund 150 Berliner hat er porträtiert, auf der Straße, auf Empfängen, in der Behindertenwerkstatt Kreuzberg.

Dann hat sich die Idee ausgewachsen, Sander sagt: verselbstständigt. Aus „Berlin – deine Gesichter“ wurde „Deutschland – deine Gesichter.“ 24 Städte.

Bei ihm sind alle gleich

Von Anfang an hat er dabei keinen Unterschied zwischen den Porträtierten gemacht. 50 x 70 Zentimeter groß sind die Leinwanddrucke, die an die nackte Betonwand in der Galerie des Palais gelehnt stehen. Gerader Blick, frontal aufgenommen, Kopf vor grauem Canvas – so reihen sich die Porträts aneinander. Politiker hat Sander ebenso ins Bild gesetzt wie Putzfrauen, Sänger Klaus Meine lehnt neben der Mathematiklehrerin seiner Tochter. Um eine annähernd repräsentative Gruppe zu schaffen, hat Carsten Sander sich vorgenommen, 1000 Menschen zu fotografieren. Etwa 50 fehlen noch.

Unter den 39 ausgestellten Bildern ist der Prominentenanteil deutlich höher als unter den 1000. Das hat den Reiz, dass der Betrachter in jedem Gesicht das Vertraute sucht. Zwei Tage vor der Vernissage queren immer wieder Handwerker, Organisatoren und Künstlerkollegen den langen Raum: „Ja, das ist dieser Schauspieler... wie heißt der noch?“, fragen sie. Sander antwortet: „Das ist ein Pastor aus Hannover.“ Oder: „Das ist ein Obdachloser aus Hamburg.“ Ein Lieblingserlebnis? Wie ein Vierzehnjähriger auf die Aufnahme von Didi Hallervorden zugeht, dann auf Egon Bahr daneben deutet, sagt: „Den kenne ich. Der ist Comedian.“

Es ist eine Gleichstellung, die da gelingt. Keine Gleichmachung. Carsten Sander nimmt seine Motive, wie sie sind – er sagt ihnen nicht, wie sie sich anziehen sollen, nicht einmal, sie mögen bitte den Hut abnehmen. „Menschen passen sich immer der Situation an“, sagt er. „Auf Partys ist ihre Mimik exaltiert, offensiv, auf einer Beerdigung gedankenvoll.“ Vor Sanders neutraler, grauer Leinwand sind sie zunächst oft verunsichert. „Wie soll ich gucken?“ Er gibt ihnen Zeit, anzukommen. „Und dann entdecke ich irgendwann ihren Kern.“

Komponieren, kuratieren will er nicht. „Ich werde die Bilder so aufhängen, wie ich sie gerade ausgepackt habe“, sagt er. Tritt zurück und erlaubt sich dann doch einen Eingriff: Blogger Sascha Lobo rückt er neben Fernseh-Hypnotiseur Jan Becker. „Wegen der Frisur.“

Nur auf den ersten Blick ernst

Von großer Intensität sind seine Bilder, wirken nur auf den ersten Blick ernst, auf den zweiten niemals kühl. Oft aber fremdeln die Porträtierten damit. Manchmal lüden Jugendliche ihres nach ein paar Tagen aber doch bei Facebook hoch, sagt Sander. Mit Sätzen wie: „Dringend gesucht“. Verbrecherfoto. „Sie distanzieren sich erstmal davon, aber sie wollen wissen, welche Wirkung es erzielt.“ Und freuen sich dann, wenn die Kommentare sagen: „Wie schööön.“ „Einer der seltsamsten Zustände ist das dunkle und unvollkommene Bewusstsein, das wir von der Form und dem Ausdruck unseres eigenen Gesichts haben.“ Schrieb Christian Morgenstern.

Ausnahmen gibt es: „Politiker sind darauf trainiert, sich nicht in die Karten gucken zu lassen“, bedauert Sander. Das mache es oft schwer, sie zu fotografieren. Genscher war so ein Fall, das Gesicht verschlossen. Den musste er überreden, sich noch einmal hinzusetzen. Sein Blick hat etwas Gönnerhaftes behalten. Und doch zeugt die Aufnahme von einem kleinen Kontrollverlust: Die Brille sitzt schief.

Wer sich auf der Vernissage am Donnerstagabend dafür anmeldet, kann sich am Samstag zwischen 14 und 16 Uhr in den Ausstellungsräumen fotografieren lassen, Teil des Projekts werden, der fehlenden 50. Carsten Sanders Ziel ist es, seine Bilder dann bald auch in größerem Rahmen präsentieren zu können. „Ja klar: Alle 1000.“

Auch ein Buch soll es geben. Einen Vorgeschmack darauf liefert der Katalog „Heimat“, im vergangenen Jahr vom Art Directors Club prämiert. 24 Köpfe, nahezu in Echtgröße, dazu 350 winzige. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Heimat Deutschland. Die kleinen Bildunterschriften geben nur Vornamen preis: Manfred. Sarah. Hans-Dietrich.

Ein Land, das ist Sanders Botschaft, ist immer nur die Summe seiner Gesichter.

Nein: Ein Land ist immer die Summe seiner Gesichter.

Galerie im Französischen Palais, Unter den Linden 40, Mitte. Vernissage ist am heutigen Donnerstag, 19.30 Uhr. Die Ausstellung ist Freitag bis Sonntag, von 12-20 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei.

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