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Mitglieder der Polen-Fraktion sitzen um einen Tisch in ihrem Fraktionszimmer im Preußischen Abgeordnetenhaus. Das Foto stammt aus dem Jahr 1902.

© Berliner Leben

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Gescheiterte Integration

Die Polen-Partei vertritt die Interessen von drei Millionen Polen im Kaiserrreich. Doch die Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen erschwert das Zusammenleben.

Noch ist Polen nicht verloren. Dazu müsste es erst einmal gewonnen sein, im Großen und Ganzen. Rund drei Millionen Menschen polnischer Muttersprache leben im Deutschen Kaiserreich, die meisten davon in den preußischen Provinzen Posen, Oberschlesien und Westpreußen. Von nationaler Unabhängigkeit können sie nur träumen, nach mehrfacher Teilung und zeitweise restloser Auflösung ist Polen, seit beim "Wiener Kongress" von 1815 die europäischen Grenzen neu gezogen wurden, nurmehr ein Rumpfstaat unter Kontrolle des russischen Zaren, eingeklemmt zwischen den Großmächten Preußen, Russland und Österreich-Ungarn, ständig in Gefahr, als Zwerg von den Riesen erneut gerupft oder geschluckt zu werden.

Die gewählten Mitglieder der Polen-Fraktion im Preußischen Abgeordnetenhaus, der zweiten Kammer des Preußischen Landtags (die erste Kammer bildet das vom Adel dominierte Herrenhaus), bemühen sich einstweilen darum, den Status quo zu bewahren, so gut dies eben geht. In ihrem Fraktionszimmer im Gebäude des heutigen Berliner Abgeordnetenhauses empfangen die Vertreter der polnischen Minderheit 1902 den Fotografen der Zeitschrift "Berliner Leben".

Die versammelten Herren können sich unter der deutschen Herrschaft – zumindest in materieller Hinsicht – weit weniger beklagen als ihre Landsleute in den Bergwerken Schlesiens oder auf den Ländereien preußischer Großgrundbesitzer. Wir stellen vor, von links nach rechts: Josef von Glebocki, Gutsbesitzer auf Czerlejno bei Posen, die Herren Jerzykiewicz und Schröder, Leon von Czarlinski, Rittergutsbesitzer in Zakrzewko bei Thorn, den Arzt Anton von Chaplowski, Stephan Cegielski, Maschinenbau-Unternehmer aus Posen, den Zuckerfabrikanten Leon von Grabski aus Gnesen (polnisch Gniezno), die katholischen Theologen Anton Neubauer und Ludwig von Jazdzewski, den Rittergutsbesitzer Heinrich Szumann aus Althütte bei Czamikau (Provinz Posen), sowie, ganz rechts, den Abgeordneten Anton Stychel, ebenfalls katholischer Geistlicher, Domprediger an der Kathedrale zu Posen und Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine in den Diözesen Gnesen-Posen.

Das preußische Dreiklassenwahlrecht, das die Stimmen der Wähler nach der Höhe ihres Steueraufkommens gewichtet, begünstigt besonders die Begüterten: Unternehmer, Grundbesitzer und Akademiker sind erste Wahl. Auffällig ist bei den Polen der hohe Anteil katholischer Geistlicher, der die starke konfessionelle Bindung der Minderheit im protestantisch dominierten Preußen widerspiegelt. Die Polen-Partei ("Kola Polskie"), die auch im Reichstag mit einer eigenen Fraktion vertreten ist, kooperiert in den beiden Parlamenten eng mit der katholischen Zentrumspartei.

Die Germanisierungspolitik verschärft den Nationalitätenkonflikt

Doch das Verhältnis kühlt sich allmählich ab. Die forcierte Germanisierungspolitik in den polnischen Provinzen verschärft den Nationalitätenkonflikt. 1873 wird Deutsch zur alleinigen Sprache im Volksschulunterricht, 1876 zur einzigen Amtssprache erklärt. Polnische Priester organisieren Proteste und sammeln Unterschriften gegen die systematische Verdrängung der polnischen Sprache. Mit dem Ansiedlungsgesetz von 1886 soll die "Germanisierung des Bodens" zugunsten deutscher Bauern vorangetrieben werden. Die zunehmend aggressive Anti-Polen-Politik – flankiert von völkisch-nationalistischen Organisationen wie dem vom Stahlkonzern Krupp finanzierten deutschen Ostmarkenverein – trägt stattdessen dazu bei, die Kräfte der polnischen Nationalbewegung zu stärken. Die moderaten polnischen Minderheitenvertreter im Preußischen Landtag sitzen auf verlorenem Posten: Die Integration ist gescheitert.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit unter www.tagesspiegel.de/fraktur

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