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Eine fünfköpfige Familie sitzt am Tisch ihrer Einzimmer-Wohnung und fertigt Papptröten für Jahrmärkte. Auch ein Kind hilft bei der Heimarbeit mit.

© Berliner Illustrirte Zeitung

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Heimische Industrie

Zehntausende Berliner leben um 1900 von Heimarbeit - auch Kinder müssen zu Hause mithelfen. Ein Gewerkschaftskongress macht 1904 auf das Elend der Beschäftigten aufmerksam.

Arbeiten und Leben unter einem Dach, das ist für viele Familien in Berlin Alltag im Kaiserreich. Die „Berliner Illustrirte Zeitung“ zeigt im März 1904 Bilder von den bedrückenden Lebensverhältnissen der Heimarbeiter in der Reichshauptstadt. Eine Familie ist rund um einen Tisch versammelt, beschäftigt mit ihrer „Hausindustrie“: „Die Leute erzeugen sogenannte Radauflöten“, gemeint sind Tröten, wie sie etwa auf Jahrmärkten verkauft werden. Der Lohn ist gering: „Für 1000 Stück erhalten sie zwei Mark. Das Material wird ihnen geliefert. In einer Woche können die Leute 4000 Stück anfertigen. Wochenverdienst also acht Mark“, rechnet die Zeitung vor – das entspricht heute etwa 48 Euro.

Das Verbot der Heimarbeit für Kinder soll Schulpflichtige schützen

Die Arbeitsstätte der Familie dient zugleich als Koch- und Schlafraum. Auch Kinder helfen mit, für die Schulaufgaben bleibt oft wenig Zeit. Der Kaiser sieht Handlungsbedarf. Zum 1. Januar 1904 tritt das Gesetz zum Verbot von Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ in Kraft, „als Kinder im Sinne dieses Gesetzes gelten Knaben und Mädchen unter dreizehn Jahren sowie solche Knaben und Mädchen über dreizehn Jahre, die noch zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind.“ Ein entscheidender Schritt zum Schutz schulpflichtiger Kinder vor der wirtschaftlichen Ausbeutung. „Ich glaube, dass mit dieser Vorlage (...) den sogenannten Schweißaustreibern der Weg verlegt wird, auf welchem die Kinder durch Umgehung der Gesetze ausgebeutet werden. Nur wenn denselben der Rückzug in den Familienbetrieb, in die Heimindustrie abgeschnitten ist, werden die Arbeiterschutzgesetze, welche wir erlassen haben, in volle Wirksamkeit treten lassen“, urteilt Cornelius Wilhelm von Heyl, Fabrikant und Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei.

Die Gesetzesnovelle folgt dem „neuen Kurs“ in der Sozialpolitik, der nach der Entlassung von Reichskanzler Bismarck in den 1890er Jahren beschritten wird. Die Kinderarbeit in Fabriken war bereits 1891 verboten worden, zu Hause durften Halbwüchsige aber weiterhin beschäftigt werden. Noch 1896 hieß es im Bürgerlichen Gesetzbuch: „Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen und unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“

Das Bild aus der „Berliner Illustrirten Zeitung“ zeigt: 1904 greift das neue Gesetz noch nicht überall. Am Küchentisch der heimischen Fabrik werkeln mehrere Generationen, auch ein Kind. Im dazugehörigen Beitrag wird über den ersten Heimarbeiter-Schutzkongress im Gewerkschaftshaus am Kreuzberger Engelufer (dem heutigen Engeldamm) berichtet. In der Zentrale der 92 Berliner Einzelgewerkschaften beraten Gewerkschaftsvertreter, Abgesandte bürgerlicher Frauenvereine und Vertreter von Sozialverbänden vom 7. bis 9. April 1904 über die Lage der Heimarbeiter. Man diskutiert über Arbeitszeiten, Versicherungsschutz und Mindestlohn und fordert einen gesetzlichen Schutz der Beschäftigten in der „Hausindustrie“. Auch die Gesundheit der Heimarbeiter ist ein Thema: „Von 2122 besuchten Konfektions-Heimarbeitern waren 19 Prozent der Männer und 17 Prozent der Frauen lungenkrank“, berichtet ein Experte. Eine Ausstellung dokumentiert das Elend. Der Nationalökonom Werner Sombart appelliert an den Kongress: „Bauen Sie diese Ausstellung aus. Aber stellen Sie nicht in Berlin O. oder N. aus, sondern lassen Sie die gute Gesellschaft hingehen!“

Einen weiteren ausführlichen Beitrag zum Heimarbeiter-Kongress von 1904 in Berlin, der die zeitgenössische Gewerkschaftssicht widerspiegelt, können Sie unter diesem Link lesen.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit unter www.tagesspiegel.de/fraktur

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