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Ein Wagon liegt nach dem Absturz vom Hochbahnviadukt zerstört in einem Industriehof in der Luckenwalder Straße in Kreuzberg.

© Märkisches Museum/Stadtmuseum

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Tod am Gleisdreieck

Am Hochbahn-Knotenpunkt Gleisdreieck kollidieren im September 1908 zwei Züge. 20 Menschen sterben. Es ist das schwerste Unglück auf der wenige Jahre zuvor eröffneten Stammbahn.

Sonnabend, 26. September 1908, es ist etwa 13.45 Uhr. Der „Motor-Zugführer“ Karl Schreiber schwenkt mit seinem U-Bahnzug aus Richtung Leipziger Platz in die lang gezogene Kurve an der Kreuzungsstelle Gleisdreieck ein. An dem Knotenpunkt, der damals noch keine reguläre Haltestation, sondern nur ein Betriebsbahnhof ist, laufen die drei Streckenabschnitte der 1902 eröffneten Stammbahn zusammen, die zwischen der Warschauer Brücke im Osten und dem Knie am heutigen Ernst-Reuter-Platz im Westen verkehrt. Ein Abzweig führt von hier zum nördlich gelegenen Potsdamer Platz. Der Zugverkehr wird mittels Signalen geregelt, die im Stellwerk von Hand geschaltet werden. Das Schienendreieck der neuen Hochbahn mit dem Stellwerk im Zentrum ist eine Sehenswürdigkeit, auf zwei Ebenen in einer Höhe von sieben bis zehn Metern verkehren die Linien hier über imposante Viadukte aus Stein und Stahl – die Berliner, die in den Zügen sitzen, lassen die Szenerie ungerührt an sich vorüberziehen, nur die Kinder drücken sich hier die Nasen an den Scheiben platt.

Ein Zugführer übersieht ein Haltesignal - zwei Bahnen rasen ungebremst auf das selbe Gleis zu

Zugführer Karl Schreiber nimmt im Augenwinkel ein auf Fahrt stehendes Signal wahr. Es ist das Signal für das Nebengleis. Das Haltesignal für das eigene Gleis hat er übersehen. Was er durch die Viadukt-Bauweise des Gleisdreiecks ebenfalls nicht sieht, beschreibt ein Augenzeuge, der hinter ihm im Zug sitzt: „Als wir auf das Gleisdreieck fuhren, sah ich bei der Biegung einen Zug aus dem Westen (aus Richtung Bülowstraße) herankommen und nahm an, dass dieser wie gewöhnlich halten würde, um uns die freie Durchfahrt nicht zu verhindern. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass der fremde Zug dem gleichen Gleis zustrebte wie wir.“

Auch der Fahrdienstleiter im Stellwerk sieht das Unglück kommen. Sofort stellt er das Fahrtsignal auf der Strecke aus Richtung Westen auf Halt, doch es ist zu spät, der Zug ist bereits an dem Signal vorbei. Beide Bahnen rasen auf die Weiche zu – eine automatische Notbremsung gibt es noch nicht. Ein Insasse des Zuges aus Richtung Bülowstraße erinnert sich: „Da wir mit dem Rücken zu den Nebengleisen saßen, bemerkten wir nicht, dass sich ein anderer Zug unserem näherte. Plötzlich sprangen die uns gegenübersitzenden Fahrgäste mit Schreien des Entsetzens und der Angst von ihren Plätzen. Im gleichen Augenblick bekam unser Wagen einen furchtbaren Stoß. Die Scheiben flogen in unseren Wagen.“ Durch den seitlichen Aufprall wird der angefahrene Zug aus dem Gleis gehoben, Wagen Nummer 3 bricht durch das seitliche Geländer und stürzt zehn Meter in die Tiefe. Dabei fällt der Wagen aufs Dach, so dass die Fahrgastkabine vom 17 Tonnen schweren Untergestell zerquetscht wird.

Die herbeieilenden Retter finden ein grausiges Chaos vor. 20 Tote und 18 Verletzte werden gezählt, viele Verwundete flüchten in Panik von der Unglücksstelle. Die Insassen des Zuges vom Leipziger Platz kommen dagegen mit leichten Blessuren und dem Schrecken davon.

Bei der Untersuchung des Unglücks stellen Gutachter fest, dass Weichen und Signalanlagen fehlerlos funktioniert haben. Es gilt, menschliches Versagen zu ahnden. Im Februar 1909 wird der Zugführer Karl Schreiber wegen des überfahrenen Haltesignals zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Im Ersten Weltkrieg schickt man ihn zur Bewährung an die Front. Er kehrt nicht zurück. Der Bahnhof Gleisdreieck wird bis 1913 zu einem Umsteigebahnhof mit getrennten Linien auf zwei Ebenen umgebaut.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter www.tagesspiegel.de/fraktur

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