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Wilhelm von Osten steht im weißen Kittel neben seinem Pferd. Vor dem Tier sind zwei Schiefertafeln mit Zahlen und Buchstaben aufgestellt.

© Postkartenmotiv/ak-ansichtskarten.de

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Vom Pferd erzählt

Der "kluge Hans", ein Pferd, das angeblich lesen und rechnen kann, versetzt 1904 Berlin in Staunen. Sogar der preußische Kultusminister zeigt sich schwer beeindruckt.

Das lesende und rechnende Pferd mit seinem Lehrer Herrn von Osten“ – dieses merkwürdige Gespann wird im Jahr 1904 so berühmt, dass es als Postkartenmotiv kursiert. Wilhelm von Osten, 1838 als Sohn eines ostpreußischen Rittergutsbesitzers geboren, behauptet Erstaunliches über seinen fünfjährigen Orlow-Traber: Sein Pferd beherrsche die Grundrechenarten, könne buchstabieren und lesen und sei sogar in der Lage, Farben, Melodien und Akkorde zu unterscheiden. Verständlich macht sich das Tier mittels Klopfzeichen mit dem vorderen rechten Huf. Im Hof seines Hauses in der Griebenowstraße 10 in Mitte verblüfft von Osten Schaulustige mit seinen Vorführungen, die Geschichte von dem „Wunderpferd“ spricht sich herum. Bald kennt ganz Berlin den Hengst mit dem Namen „Der kluge Hans“.

Ja, intelligente Imagepflege kann das Pferd brauchen. Anfang des 20. Jahrhunderts sieht es so aus, als würden seine Dienste nicht mehr lange benötigt. Die Tage der natürlichen Pferdekraft scheinen gezählt. „Immer enger schließt sich um sie der Todesring von Dampfkraft und Elektrizität, von Fahrrad und Automobil“, schreibt die Zeitschrift „Die Woche“ ebenfalls 1904 – „und vielleicht kommt wirklich in nicht weiter Ferne der Tag, wo der letzte Hufschlag in den Straßen verhallt und unsere Städte pferdelos sein werden.“ Langsam, aber sicher geht das Pferd vor die Hunde. Berlin zählt im Jahr 1904 zwar immer noch 45 721 Pferde und nur 37 208 Hunde. Doch heute, 110 Jahre später, sind nur noch 579 Einhufer (die Statistiker erfassen Pferde, Esel und Maultiere zusammen) und mehr als 109 000 Hunde in der Stadt registriert.

Diese Zahlen zeigen: Der kluge Hans geht nicht als Zukunftsmodell in Serie, der Bürohengst hinterm Rechner bleibt menschlich. Anfang August 1904 besucht der preußische Kultusminister Konrad von Studt das Wunderpferd und zeigt sich beeindruckt von dessen Bildungsstand. Wilhelm von Osten genügt die ministerielle Anerkennung nicht, er drängt auf wissenschaftliche Expertise. Ein Appell an die Teilnehmer des 6. Internationalen Zoologenkongresses, der in Berlin tagt, bringt den gewünschten Erfolg. Unter Leitung des Direktors des Psychologischen Instituts der Universität, Professor Carl Stumpf, wird eine Untersuchungskommission zusammengestellt, die den klugen Hans im September 1904 begutachtet. So richtig gescheit werden die Wissenschaftler aus dem Tier jedoch nicht: Zwar bestätigen sie die außergewöhnlichen Leistungen des Pferdes, können aber keine Erklärung dafür finden.

Es ist ein Hund, der den Schwindel schließlich auffliegen lässt. Sein Besitzer ist der Maler Emilio Rendich. Nachdem er Berichte über das Wunderpferd gelesen hat, gelingt es ihm innerhalb weniger Wochen, seiner Schäferhündin Nora ähnliche Kunststücke beizubringen. Bei der Dressur stellt er fest, dass das Tier auf kaum merkliche Veränderungen in der Gestik und Mimik reagiert. In einem Zeitungsbeitrag berichtet er von seinen Erkenntnissen – und vertritt die Hypothese, auch Wilhelm von Osten, der Pferdeflüsterer mit dem Zauselbart, der seinen durchdringenden Blick gerne mit breiten Hutkrempen beschirmt, beeinflusse sein Wunderpferd. Erneut stellen Experten daraufhin den klugen Hans auf die Probe. Und finden heraus, dass der Hengst tatsächlich auf geringfügige Kopf- und Körperbewegungen seines Trainers reagiert. Sobald Wilhelm von Osten aus dem Sichtfeld des Pferdes verschwindet oder dem Tier Fragen gestellt werden, deren Antworten sein Besitzer nicht kennt, versagt der kluge Hans. Stephan Wiehler

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter: www.tagesspiegel.de/fraktur

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