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Berlin: Frank Till (Geb. 1962)

Wenn du den Geier siehst, dann flieg ihm hinterher

Für mich ist der Wind zu stark“, hatte sie beim Frühstück gesagt. Da ist er allein geflogen. Die Winde in Kapstadt sind launisch, wechseln von einer Minute zur anderen. Eigentlich nur etwas für die heimischen Gleitschirmflieger, die das Gebiet gut genug kennen. „Ach geht schon, nur ein bisschen ruppig in der Luft“, sagte er, als er auf dem Landeplatz wieder vor ihr stand. „Heute Nachmittag kommst du aber mit.“

Alles was man zum Gleitschirmfliegen braucht, ist ein Stück Stoff mit Luftschlitzen, ein paar Schnüre, an denen der Gurtsitz hängt, und Thermik. Das Prinzip des Aufwinds: für einen Ingenieur wie Frank eigentlich nur Physik und dennoch unendlich faszinierend. Die Winde an der Bergkante dafür zu nutzen, in der Luft zu schweben und sich hochzudrehen, dafür muss man die Landschaft lesen. Denn die Luft ist unsichtbar. Man muss Pflanzen, Wolken und die Vögel beobachten, die wissen, wo die Thermik stimmt. Eine alte Gleitschirmflieger-Weisheit: Wenn du den Geier siehst, dann flieg ihm hinterher. Aber gefährlich kann es auch für den Geübtesten werden: Wer zu hoch fliegt, wird schon mal von einer Wolke eingesaugt und verliert darin die Orientierung. Wie alle Gleitschirmflieger hat auch Frank in seiner Ausbildung gelernt, in solchen Gefahrensituationen ruhig zu bleiben.

„Du bist da oben auf dich allein gestellt“, sagt Kathrin, „mit jeder Entscheidung. Jede brenzlige Situation, die du durchstehst, in der du ruhig bleibst, bringt dich weiter. Panik ist keine Option.“

Frank machte alles, was er tat, intensiv: feiern, diskutieren, arbeiten, lieben, streiten. Die Oberfläche langweilte ihn, er bohrte grundsätzlich eine Schicht tiefer. Ein Suchender, der auch mit 50 noch nicht sicher war, was dieses Leben eigentlich bedeutet. Mit einem Kopf voller Ideen: eine Schule gründen, ein Entwicklungshilfeprojekt in Afrika. Er traute sich viel zu.

Er arbeitete als freier Berater für den chemischen Anlagenbau, düste jeden Sonntagabend über die Autobahn nach Österreich. Er genoss das Kiezleben in der Kreuzberger Fichtestraße, wenn er am Donnerstag zurückkehrte. Er tat alles für die zwei Kinder, mit denen er hier wohnte: Josefine, aus seiner geschiedenen Ehe, und Jermain, Sohn seiner Freundin Kathrin und ein so großer Draufgänger wie er selber. „Papa war ein Adrenalin-Junkie“, sagt Josefine. „Einen Abenteurer als Vater zu haben, das ist erst mal toll. Das macht einem selber Mut.“

„Eigentlich müssten wir uns mal um deine Absicherung kümmern“, hatte er noch in den Weihnachtsferien zu Kathrin gesagt. „Damit du auch in unserer Wohnung bleiben kannst, wenn mir mal was passiert.“ Damit war das Thema auch schon wieder vom Tisch. Lieber gingen sie gemeinsam tauchen, snowboarden, klettern, windsurfen. Und vor allem Gleitschirm fliegen. In Berlin trainierten sie das „Groundhandling“ auf dem Tempelhofer Feld. Da übt man den Umgang mit dem Schirm am Boden. „Statistisch“, sagt Kathrin, „ist Gleitschirmfliegen nicht gefährlicher als Motorradfahren. Es kommt auf das Können und die Einstellung des Piloten an.“

Es ging all die Jahre gut. Nur einmal, in Italien, hatte sie die Thermik verpasst und musste in einer Baumkrone notlanden. Frank schwebte über ihr und rief panisch ihren Namen. Ein alter Bauer fand sie und brachte sie auf seinem Moped zur Straße zurück. „Ich muss gleich noch mal hoch“, beschloss sie, Frank nickte. Er wusste: Wenn sie es nicht täte, würde sie nie wieder losfliegen.

Kapstadt, am Nachmittag. Frank startet zum zweiten Mal. Kathrin bleibt am Boden, den südafrikanischen Flugbedingungen traut sie nicht, nicht heute.

Sein Start läuft gut. Doch plötzlich dreht der Wind, bläst den Schirm über die Bergkante. Frank verliert in den Turbulenzen die Kontrolle, treibt davon, stürzt ab über einem Wohngebiet.

„Auf das Fliegen verzichten? Für Frank wäre das unmöglich gewesen“, sagt Kathrin. „Er starb bei dem, was für ihn Leben war.“

„Aber du, du fliegst nicht mehr“, sagen die Kinder. „Wir könnten die Angst um dich nicht aushalten.“ Kirsten Wenzel

Kirsten Wenzel

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