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Berlin: Fred Gerstle (Geb. 1925)

Ein „Mischling ersten Grades“, untauglich für die Wehrmacht.

Die Schinder und Schikanierer, der „Siebenachtelteufel“, vielleicht haben sie ihm ja das Leben gerettet, ihn gelehrt, Widerstand zu leisten, seine Würde zu verteidigen. Fred Gerstle hat mit den Schindern längst abgeschlossen. Ihnen sei verziehen. Von höherer Warte aus besehen, sind sie nur Figuren im großen Drehbuch seines Lebens.

Als letzter meiner Sippe bleibt mir nur noch die ehrenvolle Pflicht, mich im eigenen Namen und dem aller meiner Vorfahren endgültig von dieser Welt zu verabschieden.

Seine Todesanzeige setzt er selber auf. Er plant auch sein Begräbnis. Bevor es andere tun und alles falsch machen. Helle Kleidung wünscht er sich zum Abschied. Dazu einen weißen Sarg mit einer Blumenwiese drauf. Blues sollen sie spielen und Weisheiten von Martin Buber vortragen.

Fred Gerstle hat Krebs.

Eine andere Todesanzeige, aufgegeben 1992, widmete er seinem über alles geliebten Vater. Die Anzeige erschien 58 Jahre zu spät. Fritz Gerstle, erfolgreicher Börsenmakler jüdischer Herkunft, nahm sich am 12. Dezember 1934 in Bad Saarow das Leben. Er ertrug die Verhöre durch die Gestapo nicht länger.

Sein Vater sei großzügig, charmant und gebildet gewesen, erzählte Fred, aber auch arglos, gutgläubig und „vielleicht etwas andegeneriert“, jedenfalls nicht in der Lage, den Nazis die Stirn zu bieten.

Der Vater war sein Ein und Alles. Zur Mutter, einer naiven Schönheit schlesischer Abkunft, „germanisch bis in die Knochen“, blieb er auf Distanz. Die Jahre bis zum Tod des Vaters hat Fred mit der Überschrift „Idyll“ versehen. Die Familie logiert in einer Sechszimmerwohnung in Wilmersdorf, wird von einem Chauffeur im weißen Buick-Cabrio durch die Stadt gefahren und verbringt die Wochenenden auf dem Seegrundstück in Bad Saarow. Nach dem Suizid des Vaters ist das behütete Leben zerstört. Die Mutter scheint wie erstarrt, sie nimmt sich ein kleines Zimmer, beginnt zu arbeiten und überlässt ihr Kind den väterlichen Verwandten, die es ins jüdische Waisenhaus nach Pankow geben, damit es im rechten Glauben erzogen werde. Fred denkt, er sei verstoßen worden, weil er etwas falsch gemacht hat. Aber was? Sie erzählen ihm, der Vater sei gestorben. Mehr nicht. Fred geht es wie Kafkas Romanfigur, dem Herrn K. Er wartet vergeblich auf seinen Prozess.

Unterdessen lernt er seine ersten Peiniger kennen. Sie nennen sich Erzieher, er nennt sie „sadistisch angehauchte Herren“. Er bekommt Anstaltsfrisur, Anstaltskleidung und Anstaltsessen. Das pädagogische Konzept erschöpft sich im Auswendiglernen von Gebetsformeln. Ist kein Pädagoge zugegen, malträtieren die Größeren die Kleineren. Fred gehört zwar zu den Kleineren, ist aber sportlich, ein begabter Tennisspieler. Max Schmeling, auch Wochenendgast in Bad Saarow, habe auf einer Party mit ihm geboxt, erzählte er, nur so zum Spaß. Fred gelingt es, dem Schwergewichtigsten unter den Größeren, dem rothaarigen Landecker, gezielte Faustschläge auf die Nase zu verpassen. Nur so kann Landecker, „ein Nasenbluter“, bezwungen werden. Gegen Honorar führt Fred den Schlag mehrfach aus, damit auch andere Opfer Landeckers blutige Rache nehmen können.

Nach der Pogromnacht 1938 beginnen die Kinderverschickungen ins Ausland. Fred ist für einen Zug nach England vorgesehen. Das Telefon klingelt, jemand von der Jüdischen Gemeinde ist dran und erklärt, der Transport sei überfüllt. Drei Kinder müssten zurückbleiben. Dann klingelt das Telefon erneut, ein Kind könne noch mit. Wieder ein Anruf. Ein weiteres Kind wird erlöst. Dann bleibt das Telefon still. Fred soll, so entscheidet das Schicksal, kein Engländer werden.

Mit einem der letzten Kindertransporte kommt Fred nach Holland, zuerst in verschiedene Lager, dann in ein Landschulheim der Quäker. Dort ist fast schon wieder Idyll. Bis die Deutschen kommen. Fred wird von der Wehrmacht gemustert und als „Mischling ersten Grades“ für untauglich befunden. Auf der Schule kann er nicht bleiben. Die Quäker lassen ihn eine landwirtschaftliche Ausbildung machen, das ist unauffälliger.

Vier Jahre lang geht alles gut, dann wird er bei einer Razzia der SS aufgegriffen. Zur Klärung seiner Identität kommt er nach Berlin, wird im Jüdischen Krankenhaus eingesperrt und lernt dort den „Siebenachtelteufel“ kennen, den Leiter des Lagers, ein „stumpfes Halbtier“, das nachts mit seinen Opfern Zechgelage veranstaltet, um sie am nächsten Tag in den Tod zu schicken. Fred hat Glück. Sein Mischlingsstatus hebt ihn heraus. Er wird eingezogen, zur Organisation Todt an die Westfront, um Granattrichter zuzuschütten. Während der Ardennen-Offensive der Wehrmacht läuft er zu den Amerikanern über und wird als Kriegsgefangener interniert. Einer seiner Bewacher ist ein ehemaliger Lehrer an der Quäkerschule. Der Lehrer stellt ein Empfehlungsschreiben aus, und Fred darf in die USA reisen, in die Freiheit, so scheint es. Doch außer dem Schreiben hat er keine Papiere. Bei der Einreise filzen sie ihn, es sind jüdische Geheimdienstleute, die seiner Geschichte nicht glauben. Sie schicken ihn ins Lager für SS-Offiziere nach Louisiana. Fred ist verzweifelt und empört, er weigert sich zu arbeiten. Nach zwei Ausbruchversuchen kommt er monatelang in Einzelhaft. Schließlich verlieren die Amerikaner die Lust an ihrem Gefangenen und überstellen ihn nach Antwerpen zu den Engländern. Dort trifft er einen Offizier, einen jüdischen Emigranten, der ihn anhört und Vertrauen fasst. Fred wird Übersetzer und kann sich bald seinen eigenen Entlassungsschein ausstellen.

Im Frühjahr 1946 steht Fred Gerstle vor der Haustür seiner Mutter in Zehlendorf und klingelt.

Fred möchte, dass es so wird wie früher. Ein bürgerliches Leben in großzügigen Verhältnissen als geachteter Mann. Er heiratet, die Ehe währt zehn Jahre, bleibt aber kinderlos. Fred ist jetzt freier Handelsvertreter für Etiketten und wacht immer noch über jedes Mikrogramm seiner Würde. Wenn jemand ihn schneidet oder ihm die Vorfahrt nimmt, wird er rasend vor Wut. Er kann fluchen, er beherrscht die Sprache der Gosse ebenso präzise wie die Sprache des Anstands. Manche erleben ihn als gebildeten Plauderer und reagieren verstört, wenn er wegen einer Nichtigkeit aus der Haut fährt.

Vielleicht kommt das Fluchen auch nur vom Fußballplatz. Fred spielt für Hertha Zehlendorf. Erste Mannschaft.

Er dichtet gerne für Freunde, umgarnt Kunden mit Honneurs und Witzen, diskutiert stundenlang mit den Zeugen Jehovas über das Ende der Welt, um anschließend einen großen Auftrag abzufertigen. Er weiß um seine Wirkung, sein bestechendes Gedächtnis für Zitate. Er hat viel gelesen. Mit Menschen, die ihm denkfaul erscheinen, sich ungeschickt benehmen oder orthografische Defizite aufweisen, will er nichts zu tun haben. Zeitverschwendung. Die meisten Freunde siezt er, Taxifahrer spricht er mit Du an.

Taxifahrer sind wichtig in seinem Leben. Sie dienen als Chauffeur-Ersatz. Schnell was vom Chinesen holen, Obst vom Spätkauf oder Wein von der Tankstelle. Fred schickt das Taxi und gibt reichlich Trinkgeld.

Mit seiner Mutter söhnt er sich aus, er hat ihr verziehen. Was wäre denn gewesen, wenn sie ihn nicht weggegeben hätte? Wäre er arisiert worden? Vielleicht selber als Nazi in den Krieg gezogen? Alles, was geschehen ist, war auch so vorgesehen. In der Wagner-Oper, dem Ring, sind ihm die Nornen, die Wächterinnen des Schicksals, die Liebsten.

Die Vielzahl an positiven Fügungen während meines irdischen Daseins, die mich stets, mehrfach als Einzigen, in Extremsituationen überleben ließen, kann in dieser Häufung kein Zufall gewesen sein.

Der Kreis soll sich schließen. Nach der Wende kämpft Fred um das Grundstück in Bad Saarow. Im Vermögensamt erzählen sie etwas von einer „Bretterbude“, die dort gestanden habe. Fred ist empört, beschwert sich und verlangt eine Richtigstellung. „Sommerhaus“ sollen sie schreiben, nichts anderes. Fred erhält einen Teil des Grundstücks, für den anderen Teil gibt es eine Entschädigung.

Er handelt mit Aktien an der Börse. Er möchte wissen, wie man es hinbekommt, ein Vermögen zu machen.

Seine letzte Mission: die Religionen miteinander versöhnen. Er sieht sich nicht als Jude oder Christ, er habe zum „Gott aller Richtungen“ gefunden, als „Weltbürger des Glaubens“.

Er trainiert seinen Körper, will immer von anderen hören, wie alt sie ihn schätzen. Gleichaltrige gibt er gerne als Onkel aus. Er gefällt sich im Jungsein und plant deshalb frühzeitig seinen Abschied. Das gefällt ihm am Jüdischsein am meisten: der irrwitzige Humor. Thomas Loy

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