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Berlin: Freitod wegen sozialer Kälte? Ehepaar brachte sich um

Berliner sollen entsprechenden Hinweis im Abschiedsbrief hinterlassen haben. Experten: Trotz zunehmender Arbeitslosigkeit weniger Selbstmorde in Berlin

Von Sandra Dassler

Ein Spaziergänger entdeckte den 39-Jährigen und seine 42-jährige Ehefrau am Montagvormittag leblos in ihrem Opel Astra. Der Wagen stand in der Nähe des brandenburgischen Ortes Zerpenschleuse und war, so die Polizei, von innen verriegelt. Im Fahrzeug lag auch der tote Hund des Paares, das offenbar mit einem Schlauch Abgase in das Wageninnere geleitet hatte. Die Eheleute aus Berlin hatten zuvor einen Abschiedsbrief an den Cousin der Frau geschickt. Darin soll nach Berichten einiger Medien stehen, dass sie ihren Tod schon länger planten, unter anderem weil sie die in Deutschland „herrschende soziale Kälte nicht mehr ertragen“ würden und Angst vor Hartz IV hätten.

„Von Hartz IV war in dem Abschiedsbrief keine Rede“, sagt die Sprecherin des Polizeischutzbereichs Barnim hingegen dem Tagesspiegel. Dass da etwas von „sozialer Kälte“ stand, will sie nicht dementieren, bestätigt aber auf Anfrage, dass es sich bei den beiden nicht um Hartz- IV-Empfänger handelte. Zwar soll der 39-jährige freiberufliche Aufnahmeleiter für Fernsehserien seit einem Jahr neue Aufträge gesucht haben, seine Frau jedoch arbeitete in ungekündigter Stellung als Chefsekretärin in einer Spedition. Kinder hatten die beiden nicht.

„Möglicherweise war die gefühlte berufliche Perspektivlosigkeit des Mannes ein Anlass für den Entschluss, sich das Leben zu nehmen“, sagt Georg Fiedler vom Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete in Hamburg. Aber die alleinige Ursache sei es sicherlich nicht gewesen, meint der Experte. Fiedler schließt angesichts seiner langjährigen Berufserfahrung einen direkten Zusammenhang zwischen sozialen Problemen wie Massenarbeitslosigkeit und der Häufigkeit von Selbsttötungen aus: „Das kann schon deshalb nicht sein, weil die Arbeitslosigkeit in den vergangenen 15 Jahren dramatisch gestiegen ist, die Suizidrate aber im gleichen Zeitraum bundesweit sogar gesunken.“

Das trifft auch auf Berlin zu, bestätigt Michael Witte von der Beratungsstelle Neuhland für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche: „1980 gab es allein in West-Berlin jährlich etwa 900 Suizide. Heute sind es in West- und Ost-Berlin zusammen nur noch ungefähr 500.“ Zum Glück – betonen die Wissenschaftler – steigt mit der Zahl der Arbeitslosen keineswegs automatisch auch die Suizidrate.

Sowohl Fiedler als auch Witte bestreiten andererseits nicht, dass soziale Ängste bei suizidgefährdeten Menschen „wie ein Katalysator“ wirken können. Therapeuten, Ärzte und Seelsorger werden seit Beginn der Diskussion um Hartz IV immer häufiger mit sozialen Problemen konfrontiert. „Wenn jemand schon psychisch labil ist, kann zum Beispiel der vermeintlich oder tatsächlich drohende Wohnungsumzug das Fass zum Überlaufen bringen“, sagt ein Mitarbeiter der Berliner Telefonseelsorge. Deshalb sollten die bestehenden unentgeltlichen Beratungsmöglichkeiten gerade für Menschen mit wenig Geld unbedingt erhalten bleiben.

Beratungsstelle Neuhland für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche unter Tel.: 8730111 oder Krisendienst (Kasten unten)

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