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Berlin: Friedrich Hamberger (Geb. 1914)

Sein Glück: Er wurde angeschossen

Was für ein schönes, fein gezeichnetes Gesicht im Alter. Als wären ihm die schweren Schicksalsschläge erspart geblieben. Auf dem Foto blickt ein Mann voller Gelassenheit, nein, nicht auf das Gegenüber; sein Blick richtet sich nach innen, ist ein wenig verhangen, und zugleich scheint er schon in weite Fernen zu schweifen. Der Mund, umspielt von einem leichten Lächeln, spricht von einer gelassenen Lebensfreude – und von der Dankbarkeit, sie teilen zu dürfen. Der Anlass des Bildes: Ein Fotograf hatte ihn gebeten, sich für ein Buch über Kriegsveteranen ablichten zu lassen.

Das Grauen des Krieges kam nachts wieder hoch. Nach einer Schulteroperation verfiel er durch die Narkose ins Delirium, er halluzinierte nicht, er träumte nicht, er durchlebte den Schrecken noch einmal, schrie, ohne Ende. „Die erschießen uns, kalt, kalt, kalt, die erschießen uns!“ Morgens fragte er seinen Sohn „Wo bin ich? Was war das heute Nacht, kannst du mir erzählen, was war?“ Das Grauen saß tief innen, abgekapselt, war nicht mitteilbar.

Er hatte den Frankreichfeldzug mitgemacht, wurde nach Russland kommandiert, kam bis kurz vor Stalingrad. Sein Glück: Er wurde angeschossen, verlor die halbe rechte Hand, und konnte sich auf einen der letzten Lkw, die Richtung Westen fuhren, retten.

Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Lehrer. Er hatte einfache Regeln: Auch die größte Liebe kann Erziehung nicht ersetzen und: Man soll Kindern keine Freiheiten aufbürden, die sie nicht schultern können. Einer muss da sein, der die Richtung weist. Er selbst wusste nur zu gut, was es heißt, seinen Weg gehen zu müssen, auch wenn er ein einziger Parcours von Hindernissen zu sein scheint.

Als Kind ging er jeden Tag sechs Kilometer den Berg hinab zur Schule, und denselben Weg wieder bergauf, jahraus, jahrein in denselben Schuhen, oft knietief im Schnee. Er wuchs in einem kleinen Ort im Schwarzwald auf, drei Geschwister, die nicht viel zu teilen hatten, schon gar kein Spielzeug. Radreifen schlagen, Steinschleudern, Vögel fangen, das waren ihre Spiele – wenn sie freie Zeit hatten, denn sie mussten auf dem Hof mitarbeiten.

Der Vater war Holzfäller, Bienenzüchter, Ortsvorsteher, Steuereinzieher und Kleinbauer, drei Kühe standen im Stall, die kurze Erntezeit ließ nicht allzu viel zum Leben. Es reichte immer nur knapp.

Friedrich, dem Jüngsten, wurde die Ausbildung am Lehrerseminar ermöglicht. Die erste Schule, an der er arbeitete, war eine Dorfschule in der Nähe des Klosters Maulbronn. Acht Klassen in einem Raum, ein Terrarium, ein Schulhof mit Lindenbaum, der zugleich als Fußballplatz diente.

Die Schüler von damals luden ihren alten Lehrer Jahr für Jahr ein. Bis vor zwei Jahren fuhr er zu diesem Klassentreffen der Senioren. Die einstigen Erstklässler waren nunmehr an die 80.

Nach dem Krieg wurde Friedrich Hamberger Schulleiter in Pforzheim, er heiratete, ein Sohn wurde geboren. Seine Frau und er – das war eine große Liebe; die sie zeitweise verloren glaubten, aber sie fanden wieder zueinander, gingen noch im Alter Hand in Hand: „Ich hoffe, ich kann meinen Friedrich noch lange haben.“

Das Leben hätte nach der Pensionierung seinen ruhigen Gang gehen können, aber seine Frau erlitt eine Hirnblutung, 18 Jahre versorgte er sie, zunächst zu Hause, dann besuchte er sie Tag für Tag im Pflegeheim, kümmerte sich bis zum Schluss, obwohl sie da längst nicht mehr ansprechbar war.

Nach Berlin kam Friedrich Hamberger erst 2007, nach einem Schulterbruch. „Kein Rollator bitte. Dafür fühle ich mich zu jung!“ Er ließ sich von seinem Sohn eine kleine Wohnung einrichten, modern, sachlich. Er freute sich seines Lebens und gab die Freude weiter. Da er kein Mann der großen zärtlichen Gesten war, aber sehr wohl wusste, dass Liebe durch den Magen geht, standen immer zwei Stück Kuchen im Kühlschrank, eins für den Sohn, eins für die Enkeltochter, die ihm ein wenig von seiner eigenen Jugend wiedergab. Für sie sammelte er bei jedem Einkauf Fünf-Euro-Scheine.

Nach seinem Tod fand sich in seinem Geldbeutel ein letzter Schein. „Papa, den hat Opa für mich gesammelt!“ Die Kleine nahm den Geldschein in die Hand, rieb ihn, roch daran. „Papa, kannst du mir dafür ein Glaskästchen bauen? Da leg ich ihn rein.“ Gregor Eisenhauer

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