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Friedrichshain: Die Straßenkünstler vom RAW-Tempel

18 Jahre Authentizität: Das Obdachlosen-Theater „Ratten 07“ wird volljährig. Zum Jubiläum sind eine Ausstellung, Lesungen und ein neues Stück geplant.

Das Büro im Friedrichshainer RAW-Tempel ist mit Möbeln vollgestellt, etwas vernebelt und wird von einem kläffenden Hund gut bewacht. Hermann, ein ziemlich junger Darsteller, und Peter, eines der ältesten Mitglieder, hocken entspannt zwischen Fotos und Plakaten früherer Inszenierungen. Peter hat sich gerade eine Flasche Oettinger Pils geöffnet und prostet der Runde zu, Hermann trinkt Saft. Zwischen ihnen sitzt Gunter Seidler, der langjährige Regisseur des 1992 an der Volksbühne gegründeten Obdachlosen-Theaters „Ratten 07“.

Die Ratten werden also in diesem Jahr 18 Jahre alt und somit quasi volljährig, und das wird gefeiert: Im Juni sind Lesungen geplant im Theaterforum Kreuzberg mit Schauspielern der ersten Generation (diese nennen sich dann „Ratten-Monologe“). Und weil 2010 das „Europäische Jahr der Armutsbekämpfung und des Kampfes gegen soziale Ausgrenzung“ ist, planen die Ratten eine Ausstellung in der Alten Feuerwache Friedrichshain mit dem Titel „Kunst trotz(t) Armut“. Sie soll im August eröffnet werden.

„Ratten sind soziale Wesen. Sie haben sich überall durchgesetzt, egal wie sehr Menschen versucht haben, sie zu verdrängen“, sagt Regisseur Seidler. Die Überlebensschläue und die soziale Kompetenz habe die Theatergruppe mit den Nagetieren gemein. Nach der Inszenierung von Albert Camus’ „Pest“ an der Volksbühne hatte sich das Theaterprojekt unter dem Regisseur Jeremy Weller gebildet. 15 Obdachlose und 15 Mitarbeiter der Volksbühne hatten damals zusammen auf der Bühne gestanden. Bei ihrer Namensgebung wurden die Obdachlosen inspiriert von Camus’ Drama. Erste Anzeichen der beginnenden Pestepidemie sind hier nämlich die sterbenden Ratten. Weil sieben Darsteller nach seiner Gründung einen Neuanfang gefunden haben, ist der Namenszusatz „07“ entstanden.

2002 trennte sich das Ensemble von der Volksbühne – im gegenseitigen Einvernehmen. Aus dem Obdachlosen-Theater wurde ein obdachloses Theater. Seitdem spielt die Gruppe an verschiedenen Bühnen, etwa im Theaterforum Kreuzberg, im Stadtbad Steglitz oder im Prater in Prenzlauer Berg. Dabei sind sie ständig auf Fördermittel angewiesen. Da solche Anträge häufig ohne Antwort bleiben, warten die Ratten oft lange, bis die Proben für das nächste Stück beginnen können.

Von den Darstellern ist heute keiner mehr wohnungslos. Denen, die tatsächlich obdachlos zu den Ratten kommen, hilft der zum Theater gehörige Verein „Ratten e.V.“ bei der Wohnungssuche und bietet Unterstützung in allen Lebensbereichen. Dass Obdachlosigkeit ein Lebensgefühl ist und nicht zwingend Wohnungslosigkeit definiert, erklären die Drei mit Nachdruck. „Viele fühlen sich in ihrer Wohnung einfach nicht wohl. Das riecht man dann schon beim Hereinkommen“, sagt Peter. Trotzdem ist Voraussetzung für die Teilnahme am Projekt, dass man zumindest eine Vergangenheit als Obdachloser hat. Viele sind oder waren drogen- oder alkoholabhängig. Bei den Darstellern handele es sich laut Seidler um Aussteiger, die sich der bürgerlichen Gesellschaft nicht zugehörig fühlen. „Gewöhnliche“ Schauspieler haben bei ihm keine Chance. Und um eine Ratte zu werden, muss man mindestens eine Produktion vollständig durchstehen.

„Wenn einmal alles stimmt, wenn die Darsteller um ihr Leben spielen, dann entsteht eine Energie, die es so nur bei den Ratten gibt“, sagt Seidler. Der Regisseur betont, dass die darstellerische Stärke des Theaters im besonderen Erfahrungsschatz und Ausdrucksvermögen der Künstler liegt. Nach den Vorstellungen lobt das Publikum oft die „starken Masken“ der Akteure, erzählt Hermann. „Wie macht ihr das bloß?“, fragen sie dann. Johlend ruft Hermann: „Ja, wir sehen einfach so aus!“.

Hermann kommt eigentlich aus Süddeutschland. „Hier landen nur Wessis“, erläutert Peter. Hermann hatte nach seiner Ausbildung zum Fotografen bei der ständigen Arbeit im Schneideraum eine Burn-Out-Erfahrung gemacht, sich wie im Gefängnis gefühlt. Er wollte weg aus Bayern und fand in Berlin den Freiraum, den er suchte.

„Die kontinuierliche Arbeit hat die meisten Mitarbeiter sesshaft gemacht und resozialisiert. Einige trinken jetzt auch keinen Alkohol mehr“, sagt Seidler. Dennoch besteht er darauf, dass die Theatergruppe nicht vorrangig ein soziales Projekt sei und deswegen auch keine Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten brauche. Peter und Hermann stimmen sofort zu: „Arbeit ist ein Geschenk. Je älter man wird, desto mehr braucht man einen Sinn“. Das Proben zu festen Zeiten in einer festen Gruppe und die Verantwortung, die jeder für die entstehende Inszenierung übernimmt, halten viele über Jahre bei den Ratten. Peter wurde schon 1994 bei einem Fest zum Jahrestag der Straßenzeitung „Motz“ quasi auf der Straße entdeckt. Er meint, dass man sowieso am meisten auf der Straße trainiere, für das, was man auf der Bühne von sich zeige. Und wenn die Zuschauer am Ende der Vorstellung applaudieren, ist das „besser wie Heroin“, sagt Peter und lacht grölend.

Die Inszenierungen der Ratten handeln von sozialer Ausgrenzung. Sie spielen Bertolt Brecht, Dario Fo und als Nächstes ist Tankred Dorsts Komödie „Wegen Reichtum geschlossen“ geplant. Im Oktober soll es auf die Bühne kommen, der Spielort steht allerdings noch nicht fest. Weil sich die Theatergruppe ganz bewusst kleine Spielstätten aussucht, sei die Umsetzung des Stoffs laut Seidler viel direkter und affektiver, als es an großen Schauspielhäusern zu erwarten sei. Fest steht auf jeden Fall eines: Die Ratten sind rau, erschreckend witzig und vor allem wahrhaftig.

Jana Scholz

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