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Frühgeborene und ihr Kampf ums Überleben: Ein stiller Schnellstart

Jeder Zentimeter mehr Wachstum und jedes Gramm mehr Körpergewicht sind ein Erfolg. In Berlins Spezialkliniken kämpfen Frühgeborene ums Überleben. Von den Müttern wird dabei viel verlangt – und es passiert, dass sich die Eltern schon nach kurzer Zeit wieder von ihren Kindern verabschieden müssen

Ein sonniger Tag. Die ersten wärmenden Frühlingsstrahlen haben viele Patienten nach draußen vor die Krankenhaustüren gelockt. Drinnen, in der Klinik für Geburtsmedizin des Virchow-Klinikums, herrscht ruhiger Halbschatten. Im vierten Stock hat ein kleines Mädchen gerade seinen Kampf ums Überleben gewonnen.

„Elisabeth geht es gut, wir können sie in zwei Wochen entlassen“, sagt Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité.

In zwei Wochen hätte Elisabeths Geburtstag sein sollen. Doch das Mädchen kam drei Monate zu früh auf die Welt, 28 Zentimeter groß und ganze 480 Gramm schwer. Reife Neugeborene bringen es auf das Siebenfache. Dass Elisabeth den Frühstart überleben würde, war nicht sicher. Jetzt ist es sicher.

Elisabeth schläft derweil unbeeindruckt in ihrem beheizbaren Krankenbettchen. Ihr Kopf steckt in einer kleinen weißen Mütze. Ein dünner blauer Schlauch ist mit einem herzförmig ausgeschnittenen Pflaster unter die Stupsnase geklebt. Der Schlauch führt bis in ihren Magen. Auch wenn sie schon an der Brust trinkt, braucht sie immer noch Unterstützung mit einer Magensonde.

Elisabeth wiegt jetzt schon 1800 Gramm. Eine wahnsinnige Aufholjagd hat die Kleine in den letzten elf Wochen hingelegt.

Tamila Paulus, ihre Mutter, ist erleichtert. Elisabeth ist das erste Kind der 34-Jährigen. Sie ist gebürtige Georgierin und lebt jetz mit ihrem Mann in Charlottenburg. Die üppigen dunklen Haare sind zu einem Zopf geflochten. Sie trägt einen Mundschutz, um ihre Tochter vor Keimen zu schützen. Darüber lächeln – manchmal etwas müde – braun-grüne Augen.

Auch Tamila Paulus hat eine anstrengende Zeit hinter sich. Seit fast drei Monaten verbringt sie jeden Tag dreizehn Stunden bei ihrem Kind in der Klinik.

Wie viel Kraft muss eine Mutter haben? Sehr viel, besonders dann, wenn ihr Kind so früh auf die Welt geholt werden muss. Dann sind die ersten Wochen eine Zeit der Tränen, der Hoffnung, Angst, Verzweiflung und der Freude – und das manchmal wechseln im Stundentakt.

Die ersten sieben Wochen lag das kleine Menschlein auf der Intensivstation. Risikobeladene sieben Wochen. „Es gibt keine Sicherheit, jede Stunde kann etwas passieren“, sagt Tamila Paulus.

Auf dem Tisch in Elisabeths Patientenzimmer liegt ein Computerausdruck mit einer zittrigen, aufsteigenden Linie. Die Kurve zeichnet die Startphase des Frühchens ins Leben nach: Die Entwicklung ihres Körpergewichts. Die Linie zeigt meist nach oben, doch jeder Zacken steht für eine kleine Krise – oder eine große Gefahr. So wie nach der achten Woche, als Elisabeth an einer Lungenentzündung erkrankte. Die Kurve stagniert, keine Gewichtszunahme. Eine gefährliche Zeit, in der Elisabeth Antibiotika bekam und ihre Mutter kaum Ruhe fand. „Ich habe viel geweint in dieser Zeit“, sagt sie leise.

Sie wird nicht die Einzige sein, die auf dieser Station, auf der so hart gekämpft wird, manchmal weint.

Die Frühchenabteilungen der Charité sind die größten Berlins. Rund 90 Neugeborene liegen hier in Wärmebettchen und Brutkästen – doch kein Schrei ist zu hören. Ungewöhnlich für eine Neugeborenenstation. Doch diese Neonatologie ist nicht gewöhnlich. Hier werden Säuglinge betreut, die zum Teil schon nach einer Schwangerschaftsdauer von weniger als 24 Wochen zur Welt kamen – vier Monate vor der regulären Zeit. Ihre unfertigen Körper brauchen viel mehr ärztliche, pflegerische und medizintechnische Hilfe als reife Neugeborene.

Von einem Inkubator zum Beispiel, einem Kasten aus Plexiglas, mit 35 mal 60 Zentimetern Kantenlänge und großen Löchern in der Seite, durch die man ins Innere fassen kann. Der Hightech-Brutkasten hat es in sich: Er filtert die Luft, reichert sie mit Sauerstoff und Feuchtigkeit an und hält die Körperwärme der Kinder bei konstanten 37 Grad – ein Mikroklima, das der Gebärmutter nachempfunden ist.

In einer Ecke der Intensivstation, gleich neben dem Gang, sitzt eine Mutter still und etwas zusammengesunken neben einem Inkubator. Sie trägt einen grünen Kittel und einen Mundschutz. Ihre Hände, die sie durch die zwei Öffnungen an der Seite des Brutkastens gesteckt hat, streicheln zärtlich und vorsichtig einen kleinen Körper, der auf dem Rücken liegt, Ärmchen und Beinchen von sich gestreckt, wie ein umgefallener Käfer.

Warum passiert so was? Warum kommen Kinder vor der Zeit? Das habe selten etwas mit beeinflussbaren Umständen oder Lebenswandel zu tun, sagt Klinikdirektor Christoph Bührer. „Das ist in den meisten Fällen Schicksal.“ Zum Beispiel wenn Bakterien die Fruchthöhle besiedeln und zur Unzeit Wehen auslösen. Oder wenn die Plazenta geschädigt ist, die das Kind mit Nährstoffen versorgt. Dann hört das Kind zu wachsen auf, und die Mutter kann sehr krank werden: Ihr Blutdruck steigt plötzlich rasant an oder die Leber wird geschädigt.

Besonders problematisch wird es, wenn das Kind nach einer Schwangerschaftsdauer von 23 Wochen oder weniger zur Welt kommt. Hier liegt derzeit die biologische Grenze für die Überlebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs. Diese Trennlinie wird durch den Entwicklungsstand der Lunge markiert, die bis zu diesem Zeitpunkt den notwendigen Gasaustausch noch nicht leisten kann.

Die schwächsten Babys in den Brutkästen haben Schläuche im Mund, in der Nase, am Kopf, an den Armen; für die Atmung, für die Ernährung, für Infusionen. Sie bekommen Arzneien, um die Lungen zu stärken oder Bakterien zu bekämpfen, oder werden mit intensivem Blaulicht bestrahlt, weil sie wegen der unterentwickelten Leber unter einer Neugeborenengelbsucht leiden. So wird der Abbau des überschüssigen gelben Blutfarbstoffes Bilirubin beschleunigt.

Die Kleinen schlafen viel, Überleben ist anstrengend. Viele von ihnen, die auf der Intensivstation der Abteilung liegen, haben einen Beatmungsschlauch in der Nase, der manchmal bis in die Luftröhre reicht. Sie sind noch zu schwach, um selbst atmen zu können. Auch das ist ein Grund für die Stille: der Tubus genannte Schlauch drückt die Stimmbänder zur Seite – die Babys können gar nicht schreien, zumindest nicht hörbar.

Auf der Brust von vielen der Säuglinge kleben Sensoren, die Herzschlag und Atmung überwachen. Einigen von ihnen müssen die Ärzte täglich Blut abnehmen, um die optimale Beatmung und Arzneiwirkung zu kontrollieren.

Nicht immer haben die Kinder genug Kraft zum Überleben. Dann liegen Start- und Ziellinie des Lebens auf dieser Station ganz dicht beieinander – manchmal nur Stunden voneinander entfernt. „Wir Ärzte arbeiten hier oft in einem Graubereich“, sagt Klinikdirektor Bührer. Der Graubereich beginnt da, wo die Organe noch nicht reif sind, den Organismus am Leben zu erhalten.

Die Leidensfähigkeit der Eltern ist sehr unterschiedlich. Manchmal wollen die Eltern früher aufgeben als die Ärzte, wenn nichts gut zu gehen scheint, wenn die Gesundheitsprobleme der Frühchen übermächtig werden, wenn die Hoffnung auf ein gutes Ende schwindet. Dann ist es die Aufgabe der Mediziner und Schwestern, diese Hoffnung zurückzugeben.

Und manchmal sehen die Ärzte, dass eine Fortführung der Therapie nicht im besten Interesse des Kindes ist – und müssen dies den Eltern verständlich machen. Ein Überleben des Kindes um jeden Preis sei nicht das Ziel, sagt Bührer. Man müsse seine Grenzen respektieren. Und das kann auch bedeuten, dass Arzt und Eltern die Geburt eines viel zu frühen Kindes akzeptieren, und es in Ruhe für immer einschlafen lassen. Auf der Station steht dann die Pflege und Begleitung des sterbenden Kindes im Mittelpunkt.

Letztlich sind Ärzte und Eltern in diesem Überlebenskampf nur Helfer. Die Hauptarbeit liegt bei den Kleinen.

„Elisabeth hat von Anfang gekämpft und gezeigt, dass sie leben will“, sagt Tamila Paulus. Elisabeth hatte zwar „schon“ 27 Wochen Schwangerschaft hinter sich, doch ihr Entwicklungsstand, sprich Körpergewicht, war niedrig. Mit ihren 480 Gramm Lebendgewicht schwebte sie in großer Gefahr.

Der Körper der Mutter konnte das Kind nicht mit ausreichend Nahrung versorgen. Die Plazenta war krank. „Der Fötus wächst nicht mehr oder nur sehr langsam“, sagt Chefarzt Bührer. „Wenn man dann nicht eingreift, droht der Tod des Kindes.“ Man habe auf den Ultraschalluntersuchungen geradezu sehen können, wie das Mädchen im Mutterleib Hunger leidet. Die Ärzte entschieden: Das Kind muss auf die Welt, per Kaiserschnitt.

„Ihre Haut war so dünn, rötlich, fast durchscheinend“, erinnert sich ihre Mutter an den ersten Blick auf ihre Tochter.

Für viele Frühchen übernimmt die Körperpflege anfänglich das Klinikpersonal. Denn das fällt manchen Eltern zunächst schwer. Sie haben Angst, die Kleinen dabei womöglich zu verletzen. Verständlich angesichts der so zerbrechlich wirkenden Körper – kleiner Händchen zum Beispiel, die gerade so den Zeigefinger eines Erwachsenen umgreifen können.

Tamila Paulus hat nun Erfahrung damit, nimmt ihr Kind gern und oft zu sich. Körperkontakt ist wichtig. Das Känguruhen zum Beispiel. Das Kind liegt dabei auf der Brust der Mutter. Nur das Köpfchen schaut unter einer weichen Decke hervor, die dessen Körper bedeckt. Die Mutter murmelt leise Worte. Diese körperliche Nähe stärkt die emotionale Bindung zwischen Kind und den Eltern, hat darüber hinaus aber auch einen therapeutischen Effekt: „Das Baby wird durch den vertrauten Herzschlag beruhigt und durch die Bewegungen des Brustkorbes erhält es einen ständigen Atemreiz“, weiß Frau Paulus von den Ärzten.

Als sie erzählt, was für schöne Augenblicke das sind, wird Elisabeth in ihrem Bett plötzlich munter. Sie schreit mit einem noch dünnen Stimmchen. „Sie will kuscheln“, sagt Tamila entschuldigend und geht hinüber zu ihrem Kind.

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