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Berlin: Frühlingsgefühle statt Winterschlaf

Kraniche besetzen schon ihre Brutgebiete, Stockenten paaren sich viel zu früh – und Igel kommen nicht zur gewohnten Ruhe

Von Sandra Dassler

Maria Andrae bringt öfter mal einen Igel über den Winter. Doch in diesem Jahr wollte sich „ihr“ Stacheltier, das normalerweise von November bis April durchschläft, partout nicht zur Ruhe begeben. „Bis Mitte Dezember hat er noch gefressen und sich nur wenig Material für sein Nest zurechtgelegt“, erzählt die Mitarbeiterin beim Pflanzenschutzamt Berlin.

Das ist kein Einzelfall im derzeit milden Winter. Beim Naturschutzbund Nabu mehren sich Nachfragen von Berlinern, denen dieser Tage Fledermäuse in den Hausflur flattern. „Müssten die denn nicht Winterschlaf halten?“, fragen die Anrufer besorgt. Müssten sie, aber angesichts der eher frühlingshaften Temperaturen kommen viele Tiere überhaupt nicht in den Winterschlaf oder die Winterruhe, sagt Dirk Treichel, der Leiter des Naturparks Unteres Odertal. Beziehungsweise sind sie bereits wieder daraus erwacht und entwickeln viel zu früh Frühlingsgefühle: „Ich habe schon Stockenten beobachtet, die sich paaren“, erzählt Treichel: „Und Kranichpaare, die bereits jetzt ihr Brutgebiet besetzen.“

Überraschen kann dies eigentlich nicht. Schließlich beobachteten Ornithologen, dass viele Kraniche im Oktober gar nicht in den Süden geflogen sind. Mehr als tausend überwintern bislang allein im Linumer Bruch. Dort finden die sogenannten „Vögel des Glücks“ noch immer genügend Nahrung: Maiskörner, Würmer, Insekten. Letztere können, wenn sie rechtzeitig gefressen werden, wenigstens nicht zur Plage werden, sagen Experten. Im Mai des vergangenen Jahres hatte eine regelrechte Mückeninvasion die Hauptstadt heimgesucht. Die wurde allerdings nicht in erster Linie von dem kalten Winter hervorgerufen, sondern von der schnellen Erwärmung Anfang Mai, die alle Populationen zum gleichen Zeitpunkt ausschwärmen ließ.

Die Auswirkungen des milden Winters auf die Tierwelt sind ambivalent. Singvögel, die sonst zu Tausenden erfrieren und verhungern, haben dieses Jahr genügend Futter. Andererseits finden auch Rehe, Hirsche und Wildschweine genügend Nahrung – und sei es die bereits aufgegangene Saat auf den Feldern, die sie verwüsten. „Auch alte und kranke Tiere, die sonst im kalten Winter der natürlichen Auslese zum Opfer fallen, überleben“, sagt Jens-Uwe Schade vom brandenburgischen Agrarministerium: „Das wird die ohnehin schon zu hohen Bestände weiter anwachsen lassen.“

Experten sind sich dennoch einig: Ein milder Winter macht noch keine Klimakatastrophe, genauso wenig wie eine Schwalbe keinen Sommer macht. Wobei die Schwalben zu den am wenigsten betroffenen Vögeln gehören: Sie sind in Afrika – ganz egal, was hierzulande passiert, meint Ragna Kühne. Der Biologe im Berliner Zoo verweist darauf, dass für viele hier lebende exotische Tiere der milde Winter ausgesprochen angenehme Seiten hat: „Die Elefanten, Giraffen, Nashörner oder Affen können viel länger im Freien bleiben als sonst um diese Jahreszeit“, sagt er. Bären halten in unseren Breiten ohnehin keinen Winterschlaf – dem frönen nur zwei Tierarten im Zoo: das Steppenmurmeltier und das europäische Murmeltier. „Die haben sich dazu in den sogenannten Mähnenschaf-Felsen zurückgezogen, wo die Temperatur nicht über 15 Grad steigt und sie deshalb nicht vorzeitig erwachen werden“, sagt Kühne.

In der Natur gibt es keine garantierten Niedrigtemperaturen. So sind auch Tiere aktiv, die zwar keinen Winterschlaf, aber doch eine sogenannte Winterruhe halten: Eichhörnchen, Haselmäuse oder Siebenschläfer. Und eben die Igel. Wenn sich deren Winterschlaf weiter verzögert, bekommen sie Probleme, befürchtet Gabriele Gaede vom Arbeitskreis Igelschutz Berlin e.V.: „Igel verlieren während des Winterschlafs ein Drittel ihres Gewichts. Wenn sie spät einschlafen und spät erwachen, dauert es zu lange, bis sie wieder bei Kräften und paarungsfähig sind. Dann kommen die kleinen Igel zu spät, um den nächsten Winter zu überleben.“ Es sei denn, dieser wird wieder so mild.

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