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Fünf Jahre S-Bahn-Krise: „Dit is’ soo krank hier!“

Verspätungen, falsche Ansagen, Chaos am Bahnsteig und ein Fahrer, der seufzt: „Dit is’ soo krank hier!“ Das gehört zum Alltag bei der Berliner S-Bahn. Vor fünf Jahren begann die große Krise. Damals musste sich das Unternehmen zum ersten Mal öffentlich entschuldigen.

Um mit dem Wichtigsten anzufangen: Der für die nächsten Tage prophezeite Wintereinbruch fällt doch nicht so heftig aus. Dabei hatten sich die Stammkunden der Berliner S-Bahn mental schon darauf eingestellt: Morgens früher losgehen, das Handy aufladen, um Termine kurzfristig absagen zu können, und vor allem der Jahreszeit gemäß kleiden plus eine Thermozwiebelschicht für längere Aufenthalte auf exponierten Bahnsteigen, falls wegen Verzögerungen im Betriebsablauf … – der Rest ist bekannt.

Genau fünf Jahre ist es her, dass einer der S-Bahn-Geschäftsführer sich zum ersten Mal öffentlich für das entschuldigte, was sein Unternehmen den Fahrgästen in den Tagen davor zugemutet hatte. Damals waren die sogenannten Fahrsperren eingefroren, die verhindern, dass Züge ungebremst an roten Signalen vorbeifahren. Die zunächst nur mäßig interessierte Öffentlichkeit lernte, dass es sich bei den Fahrsperren um bewegliche Metallplatten handelte. Dass später noch Lektionen über Bremssandrohre, Wirbelstromprüfungen und Fahrmotorenlack folgen würden, war nicht absehbar. Jetzt, nach fünf Jahren, dürfte die bahntechnische Kompetenz der Berliner Pendler weltweit ihresgleichen suchen.

Zurück zu den Fahrsperren, die bei Rot aufrecht stehen wie ein Abfertiger mit Dienstmütze. Bei Grün klappen sie beiseite. Fährt ein Zug bei Rot vorbei, löst die Sperre über seitliche Bolzen an den Wagen die Bremsen aus. Eine Konstruktion aus der Frühzeit des elektrischen Stroms. Aber 80 Jahre zuverlässig, sofern jemand die Mechanik schmierte.

Mehr Geld in die Kassen der Deutschen Bahn

Nur hatte sich das Management entschlossen, die Berliner S-Bahn möglichst wartungsfrei zu betreiben. So sollte mehr Geld in die Kasse des Mutterkonzerns DB kommen, mit dem der damalige Chef Hartmut Mehdorn die Kapitalmärkte ansteuerte. Die erstarrten Fahrsperren waren die erste Bremse auf dem Weg dorthin. Zwar hatte es im Jahr davor schon sachtes Wetterleuchten gegeben, als Fahrten mangels Fahrern ausfielen. Aber nun donnerte es auch.

Während also die progressiven unter den Fahrgästen mit Smartphones von unterwegs die Börsenkurse verfolgen konnten, ersetzte die S-Bahn Wechselanzeiger durch kosteneffiziente Blechschilder und schlachtete alte Waggons aus, weil die Schrottpreise und die BWL-Kenntnisse der Manager irgendwie dafür sprachen.

Das war 2009. Was sich seitdem getan hat, illustriert die aktuellste Pressemitteilung, vom Dezember 2013: „Die Ausrüstung von S-Bahnhöfen mit modernen elektronischen Zugzielanzeigern und vollautomatischer ,Voice over IP’-Beschallung ist weitgehend abgeschlossen. 590 LCD-Anzeiger werden künftig die täglich 1,3 Millionen Fahrgäste der rot-gelben Züge über Laufweg, Ziel, Zuglänge und die prognostizierte Abfahrtzeit informieren.“

Im Klartext: Die S-Bahn kann ihre Kunden neuerdings informieren, was gerade Sache ist. Theoretisch. Praktisch vollführt der technische Fortschritt allerdings auch mal Schauspiele wie neulich auf dem stets gut besuchten Bahnhof Neukölln im Berufsverkehr: Zug fährt ein, Anzeige zeigt als Ziel „Schöneweide“. Das ist nur drei Stationen entfernt und überfällig, weil bereits ein Rudel von fünf Ringbahnen im Minutentakt vorausgefahren ist, aber schon sehr lange keine mehr in Richtung Schöneweide. Also alle rein in den ersehnten Zug, dessen Fahrgastzahl sich von etwa 300 auf 500 erhöht. Nur einer Handvoll Menschen fällt auf, dass als Zwischenhalte – in deutlich kleinerer Schrift – Treptower Park, Ostkreuz und Gesundbrunnen angezeigt werden. Die liegen allesamt auf dem Ring, so dass es bis nach Schöneweide nicht drei Stationen wären, sondern 30. Oder 57, sofern der Zug den Ring vor dem Abzweig nach Schöneweide noch zwei Mal umrunden sollte. Oder 84, wer weiß. Vielleicht der Fahrer? Der kann den Kunden nicht mehr entkommen, seit er seinen Zug durch die offene Seitentür selbst abfertigen muss. Also: Wie sind Laufweg, Ziel und Prognose?

„Dit is’ soo krank hier!“

Der Fahrer legt sein Handy weg, atmet tief durch und sagt: „Ick mach ’ne Ansage!“ Dann, ins Mikro: „Wie ick soeben im dritten Telefonat mit meinem Fahrdienstleiter erfahren habe, fährt dieser Zug weiter als Ringbahn und NICHT nach Schöneweide!“ Daraufhin stürzen etwa 400 Menschen aus dem Zug heraus; den verbliebenen scheint das Fahrziel egal zu sein. Das Gedrängel ist fürchterlich, aber jeder flucht für sich allein, also nur halblaut und mit einer Körpersprache, die Resignation zeigt statt Aggression. Hier ist nicht arabischer Frühling, sondern Berliner Winter. „Zrückbleim!“, donnert der Fahrer in sein Mikro. Und zu sich selbst: „Dit is’ soo krank hier!“ Ssst, Tür zu, weg ist er. Dann spricht die Voice-over-IP-Beschallerin: „Sehr geehrte Fahrgäste, am Gleis zwei, bitte beachten Sie: Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf wird … der Zug … S45 … Abfahrtszeit achtzehn... Uhr fünfund...“ – „ZRÜCKBLEIM!!“ Es ist der Fahrer des Gegenzuges, der die automatische Ansage unterbricht. Er fährt ab, die Automatik beginnt von vorn: „Sehr geehrte Fahrgäste...“ Und die Geehrten wissen nicht, ob sie den Wahnsinn noch erfassen oder selbst von ihm erfasst werden. Dann endlich kommt ein Zug nach Schöneweide.

Auch das zeigt, was sich in den fünf Jahren bei der S-Bahn getan hat: Erstens fährt sie wieder, zweitens zeigt sie zumindest Versuche, die Kunden zu informieren. Die aktuellste Qualitätsbilanz des Verkehrsverbundes VBB bescheinigt ihr für Oktober 2013 eine Pünktlichkeit von 91,3 Prozent. Zum Vergleich: An einem der Frosttage im Januar 2009 waren es 27 Prozent. Der Verkehrsvertrag mit dem Land fordert mindestens 96 Prozent. „Um einem Missverständnis vorzubeugen“, teilt die Pressestelle der Bahn mit: „Wir befinden uns nicht im fünften Jahr der Krise. Die konnten wir glücklicherweise nach drei Jahren überwinden.“ Ob das die Fahrgäste genauso sehen, die beispielsweise bis Juni 2013 auf die Wiederbelebung der Linie S 85 warten mussten, ist eine andere Frage.

Die Leute sind dünnhäutiger geworden

Indizien liefert das Geschehen auf den Bahnsteigen, wenn mal was nicht klappt: Als neulich spätabends am Anhalter Bahnhof die S 2 nach Blankenfelde einfuhr und nach drei Minuten kommentarloser Wartezeit mit dem Hinweis „Zug endet hier“ plötzlich geräumt wurde, begann ein Anzugträger laut über „den Scheißladen“ zu motzen und erklärte: „Wer zu allem zu blöd ist, kann immer noch bei der S-Bahn anfangen.“ Solche Sätze werden auch morgens gern in Handys gesprochen, wenn gestrandete Insassen ihre Arbeitgeber informieren, dass ihr Zug leider seit zehn Minuten auf der Strecke stehe und es deshalb später wird. Die Leute sind dünnhäutiger geworden. Manche lassen ihren Frust an denen auf dem Bahnsteig aus, die greifbar sind, also an den Falschen. Bis vor fünf Jahren hätten die Leute gesagt: „Nanu?“ Jetzt sagen sie: „Typisch!“ Die objektive Situation ist längst wieder besser als die subjektive Wahrnehmung. Die BVG mit ihren Bussen und Bahnen fährt einfach. Die S-Bahn fährt auf Bewährung.

Der legendäre Montag im September 2009

Im Rückblick scheint das Desaster so absurd wie die bisherige Geschichte des Flughafens BER. Mindestens – denn im Unterschied zu dem hat die S-Bahn schon mal funktioniert. Endgültig auf die schiefe Bahn war sie am 1. Mai 2009 geraten. Damals brach das Rad eines Zuges, wobei eher zufällig niemand zu Schaden kam. Die Manager verpflichteten sich gegenüber dem Eisenbahn-Bundesamt, die Räder wöchentlich zu kontrollieren. Nur taten sie es nicht. Als der Schwindel nach zwei Monaten aufflog, legte das Amt über Nacht den Großteil der Flotte still: Von 550 benötigten Doppelwagen standen knapp 400 auf den Abstellgleisen. Binnen weniger Tage halbierte sich die Kundenzahl. Eine halbe Million Berliner erschloss sich die Stadt nun zu Fuß, per Rad oder mit der BVG. Gehbehinderte und Mütter mit Kinderwagen blieben möglichst zu Hause.

Kaum hatte sich die S-Bahn etwas berappelt, kam jener legendäre Montag im September 2009. Um 14 Uhr gab Bahnvorstand Ulrich Homburg auf einer Pressekonferenz mit der Verkehrssenatorin bekannt, dass es von nun an wieder steil aufwärts gehe. In einer weiteren Pressekonferenz am selben Tag gegen 19 Uhr – diesmal ohne die Senatorin – sagte derselbe Homburg, dass man leider doch das Gros des Fuhrparks wieder stilllegen müsse, und zwar sofort, unverzüglich. In einer Werkstatt war nämlich ein Wagen aufgefallen, an dem von acht Bremsen vier kaputt waren. Bald stellte sich heraus, dass an den Bremsen seit Jahren eine Schraube routinemäßig nicht wie vorgeschrieben ersetzt worden war.

Immer wieder musste der Strom abgeschaltet werden

In einer parlamentarischen Anhörung zu jener Zeit redete der verkehrspolitische Sprecher der SPD den herbeizitierten Homburg versehentlich mit „Herr Humbug“ an und fasste die Stimmung damit prägnant zusammen. Betriebsratschef Heiner Wegner war zu spät zu der Anhörung gekommen, wegen der S-Bahn. Nur Homburgs S-Klasse fuhr in jenen Tagen pünktlich. Als der erste Schnee im Dezember 2009 wieder mehr als 100 Doppelwagen dahinraffte, schien der Aufstand nicht mehr weit. Aber die Leute auf den Bahnsteigen waren zu durchgefroren für körperliche Aktivität. Von Vandalismusschäden wegen übermäßiger Verzögerungen im Betriebsablauf ist nichts bekannt.

Dabei war die Krise durchaus polizeilich relevant: Zum einen musste immer wieder der Strom abgeschaltet werden, weil Passagiere bei längeren Stopps auf der Strecke eigenmächtig ausstiegen und neben den Gleisen zum nächsten Bahnhof wanderten, weil ihnen das vernünftiger schien als zu warten. Das Phänomen hält sich zum Verdruss der Bahn bis heute. Ein Sujet für Traumaforscher.

Auch beim Sprechtag des Fahrgastverbandes Igeb im Herbst 2009 rückte die Polizei vorsichtshalber an. Ein vergitterter Mannschaftswagen parkte vor dem Konferenzsaal der Bahn am Nordbahnhof, in dem sich der neue S-Bahn-Chef Peter Buchner den Fragen der Passagiere stellte. Zur Begrüßung brüllten die Stammkunden ihn an, dann redeten sie mit ihm, hörten zu, und am Ende applaudierten sie. Dass einer so gut versteht, wie sehr der Stillstand einen Menschen zur Raserei bringt, waren die Leute nicht gewohnt. Nun also hatte die S-Bahn wieder einen Chef, dem die Kunden wichtiger waren als die Kosten.

Die Bahntochter DB Netz sabotierte die Genesung

Allerdings schneite es auch im darauf folgenden Winter in Berlin, was die Flotte sofort halbierte. In einer Werkstatt zeigte Buchner die nach unten offenen Lüftungsgitter an den Elektrikkästen im Boden der modernsten S-Bahn-Baureihe und erklärte: „Wenn Sie Ihren PC bis oben hin mit Schnee vollstopfen, funktioniert er auch nimmer.“ Warum die DB dem Weltmarktführer Bombardier in den 1990er-Jahren so etwas abkaufte und dann sogar vorzeitig auf Gewährleistungsansprüche verzichtete, musste Buchner nicht beschäftigen. Für diese Archäologie waren formal andere zuständig, wenn auch niemand wirklich. Buchner sollte den Laden zum Laufen bringen. Der Mutterkonzern sicherte ihm Rückendeckung zu. Die Bahntochter DB Netz sabotierte die Genesung, indem ihr beispielsweise an einem Tag 70 Weichen einfroren und an einem anderen über 100 Signale ausfielen. Dafür stellte sie ihr Abrechnungssystem so um, dass sie von der S-Bahn nun auch für herumstehende Züge Gebühren verlangen konnte.

Insofern ist nicht ganz klar, wie präzise die von der Bahn auf 400 Millionen Euro bezifferten Kosten der Krise sind. Doch die Größenordnung ist plausibel, denn allein die Entschädigung für die Kunden summiert sich auf über 140 Millionen. Außerdem wurden 200 Lokführer ausgebildet, Werkstätten wiedereröffnet und Züge aufgemöbelt: Sie erhielten neue Räder, bessere Bremsen, und die älteren Modelle wurden und werden nach und nach für mehr als 100 Millionen Euro aufgemotzt, damit sie noch ein paar Jahre halten. Müssen sie auch, denn der Senat hat der S-Bahn zwar schon vor fünf Jahren mit Ausschreibung gedroht, aber es dann doch bei der wohlfeilen Wut belassen. Jetzt könnte der Zuschlag für einen Teil des Netzes frühestens Ende 2014 vergeben werden. Erst dann kann der neue (oder der alte) Betreiber neue Züge bestellen, die frühestens ab 2020 einsetzbar wären. So lange müssen die aktuellen Gurken noch durchhalten, so lange bleiben die Reserven knapp.

Schlechter als um die S-Bahn stehe es aktuell um die Infrastruktur

Neue böse Überraschungen – von Frost abgesehen – hält Jens Wieseke vom Fahrgastverband aber für ausgeschlossen: „Was an den Fahrzeugen zu machen war, ist gemacht worden“, sagt der Kundenvertreter mit alertem Blick durch seine Dobrindt-Brille. Schlechter als um die S-Bahn stehe es aktuell um die Infrastruktur: Auf den seit Kriegsende nur eingleisigen Strecken an den Stadträndern und nach Potsdam sei auch mit bestem Willen kein zuverlässiger Zehnminutentakt machbar, eine Weiche auf dem Ring sei jüngst viermal nacheinander ausgefallen, und zwischen Tempelhof und Hermannstraße herrsche wegen riesiger Abstände zwischen den Signalen ein künstlicher Dauerstau, weil zwischen zwei Signalen immer nur ein Zug sein darf und folglich weniger auf die Strecke passen.

Zu viele S-Bahnen sind also auch schlecht, zumindest auf einem Haufen. Zu wenige dürfen es aber auch nicht sein, denn die Fahrgastzahlen steigen: Zu den zurückgekehrten oder alternativlos treuen Stammkunden kamen neue, die durch die Entschädigungen – monatsweise Gratisfahrten – angelockt wurden. Der Zuwachs hatte schon mitten in der Krise begonnen, was zeigt, dass Berliner auch B-Ware kaufen, sofern sie runtergesetzt ist. Nur wenn es doch noch schneit, müssen sich alle warm anziehen.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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