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FÜNF  MINUTEN  STADT: Meldegänger

Altjahresabend, 19.30 Uhr, eine Wohnung im Schöneberger Norden.

Altjahresabend, 19.30 Uhr, eine Wohnung im Schöneberger Norden. „Wir fahren Fahrrad“, sagt die Frau – und ich schaue sie kurz an, wie man Extremsportler anschaut, mit einer Mischung aus Bewunderung und „Ist die irre?“ im Blick. „Wums“, kommt’s von der Straße, Blitze durchzucken das Treppenhaus, während wir hinuntergehen und – wer will schon feige sein? – im Hausflur die Fahrradschlösser aufschließen. Und dann fahren wir Richtung Kreuzberger Abendunterhaltung durch das Inferno und ich rufe: „So müssen sich Meldegänger im Ersten Weltkrieg gefühlt haben“, doch ein Böller von vorn und ein „Was ist?“ von hinten machen deutlich: Dies ist eine zu gute Kriegssimulation für launige Bemerkungen just darüber. Vorne – oben – vorne – links – vorne – rechts gehen die Augen, nur nicht überrascht werden. An der Bushaltestelle hinter den Yorckbrücken dann ein Vater mit seinem vielleicht achtjährigen Sohn, schon fliegt der D-Böller aus der Hand des Kindes vor uns auf den Radweg. Unser „Ey!“ wird vom Vater, Bomberjacke, biodeutsch, souverän gekontert: „Dann bleibt halt zu Hause!“ Und weiter geht die Fahrt, grimmige Gedanken zum Thema Freiheit und Verwahrlosung im Kopf. Kurz vor dem Mehringdamm dann noch ein Vater, diesmal im Dufflecoat, noch ein Kind, noch ein Böller, noch ein „Ey!“ Doch: „Sorry“, ruft die Männerstimme. Und hätte so mit vielem versöhnt. Wäre da, in unserem Rücken, nicht das helle, höhnische Lachen des Kindes. Johannes Schneider

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