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FÜNF  MINUTEN  STADT: Trockenzeit

Auf einem Friedhof in Kreuzberg, an einem Sonntag gegen 18 Uhr. Die Spatzen, die hier im Staub baden, wissen so gar nichts vom Tod.

Auf einem Friedhof in Kreuzberg, an einem Sonntag gegen 18 Uhr. Die Spatzen, die hier im Staub baden, wissen so gar nichts vom Tod. Lächeln sie etwa? Für einen Augenblick sieht es so aus. Der Sonne, die noch immer auf den Gottesacker brennt, ist ohnehin alles gleichgültig. In den Fichten hält sich der Schatten versteckt. Im Mittelgang, am Wasserhahn, steht ein Frau. Sie habe die Stiefmütterchen doch heute Morgen erst gegossen, sagt sie zum Vorbeigehenden, die zinnerne Gießkanne füllend. Doch jetzt, am Abend, ließen sie schon wieder die Köpfe hängen. So viel könne sie ja gar nicht gießen, es sei zum Verzweifeln, einfach zum Verzweifeln. Der Wasserhahn quietscht, als sie ihn wieder zudreht, die Spatzen schrecken auf, hüpfen aus ihrem Staubbad, fliegen aber nicht davon. Die Gießkanne ist nur halb voll. Mehr schaffe sie nicht zu tragen, sagt die Frau. Kann man helfen? Nein, nein, sie gehe gern mehrmals, sie habe ja jetzt viel Zeit. Lächelt sie etwa? Für einen Augenblick sieht es so aus. Sie hebt die Gießkanne an. Den Mittelgang hinunter, Richtung Pforte, liegt ihr Mann begraben. Sie gießt die Stiefmütterchen mit den hängenden Köpfen. Die Buchstaben auf dem Grabstein sind noch weiß. Neben einem jungen Rhododendron liegt eine Tonscherbe mit der Aufschrift „DU FEHLST“. Was wir brauchen, sagt die Frau, ist Regen. Dirk Gieselmann

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