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Berlin: Für eine Hand voll Gras

Tiberius bockt. Das männliche Skuddenschaf will nicht gehorchen.

Tiberius bockt. Das männliche Skuddenschaf will nicht gehorchen. Es hat keine Lust, geradeaus zu laufen. Das schwarze Schaf hat seinen eigenen, majestätisch-gehörnten Kopf. Von wegen treu, harmlos und dümmlich - alles Eigenschaften, die Schafen oft nachgesagt werden. Da helfen auch keine noch so autoritären Anweisungen. Der kastrierte Bock liebt viel zu sehr die Gräser am Wegesrand und bevorzugt ganz besonders die appetitlich durch die Zäune ragenden Blumen der Vorgärten am Eichkamp.

Wenn er nicht gerade ausgeführt wird, lebt Tiberius zusammen mit dem weißen Schaf Tinka bei Familie Portmann im Charlottenburger Maikäferpfad. Ähnlich idyllisch wie der Name der Straße, liegt hinter einem hellbraunen Klinkerhaus der Garten: Hühner gackern in mehreren Käfigen, Goldfische schillern unter Seerosen und dahinter grasen die beiden Wiederkäuer.

Tinka und Tiberius können ausgeliehen werden. "Handzahme Schafe zu vermieten" steht auf dem selbstgemalten Holzschild am Eingang. "Eine Preisliste haben wir nicht", sagt Martin Portmann und setzt sich auf eine grüne Gartenbank neben den Teich, "wir wollen nur eine angemessene Aufwandsentschädigung". Und die kann schon mal eine Kiste Gras darstellen. "Viele Interessierte suchen nach einer Alternative für stinkende Rasenmäher", sagt der schlanke 50-Jährige. Doch oft bleibt es beim einmaligen Ausleihen, da die Schafe ungebeten an Baumrinden, Beeren und Gemüsebeeten knabbern.

1988 zog Martin Portmann mit seiner Familie von Schöneberg in das Haus am Eichkamp. Schafe hält sich der Bäckerei-Inhaber seit zehn Jahren. "Als typischer Großstädter wollte ich mir einen Jugendtraum verwirklichen und dachte, da fehlt noch ein Schaf auf der Wiese in unserem Garten", sagt er und zündet sich ein Zigarillo an.

Ein Freund besorgte ihm damals das erste Tier. Damit es sich nicht so einsam fühlte, wurde bald ein weiteres von einem Bauernhof aus dem brandenburgischen Umland angeschafft. Ein ausreichend großer Stall war schnell gezimmert, damit Portmann auch nachts seine Schäfchen ins Trockene bringen konnte. Seitdem gehören stets zwei Schafe auf das Grundstück der Portmanns, wie anderswo Zwerge in Vorgärten.

Tinka und Tiberius sind das sechste Team. "Nach spätestens zwei Jahren brauchen die Tiere mehr Auslauf, sonst werden sie aggressiv", erzählt Bäckermeister Portmann. Dann werden die Schafe wieder zu den jeweiligen Heimatherden zurückgebracht. So musste sich die Charlottenburger Familie schon von vielen lieb gewonnenen Haus- oder genauer Gartentieren trennen. "Das ist dann immer eine Katastrophe", sagt der zehnjährige Tim und streichelt den zotteligen Hals von Tinka.

Seine fünf Jahre ältere Schwester Jasmin kann sich ein Leben ohne Schafe gar nicht mehr vorstellen: "Seit ich denken kann, lebe ich mit Schafen zusammen". Einzig Frau Portmann ist stets gegen tierische Neuerwerbungen: "Die sind anstrengend", sagt sie. Auch im Garten müssen unsere Schafe immer angeleint sein, sonst fressen die alles auf."

Gemietet werden die Tiere häufig als Attraktion für Kindergeburtstage. "Viele Stadtkinder haben durch unseren Streichelzoo zum ersten Mal Kontakt mit einem Schaf", sagt Portmann. Vor einigen Jahren hatte sich eine Mutter etwas besonderes für die Weihnachtsbescherung ausgedacht: Ein Lamm unter dem Tannenbaum. Für das Tier wurde ein kleines Lager aus Stroh gebastelt. Einziger Wehrmutstropfen für die Kinder war hinterher, dass sie das Lämmchen nicht lange behalten durften.

Auf der Arbeit versuchte Martin Portmann ebenfalls, seinen Kunden die Liebe zum wolligen Wesen näher zu bringen. Portmann, der drei Bäckereien in Schöneberg leitet, bot vor einiger Zeit ein "Schäferbrot" an. Das war besonders körnig. "Doch die Kundschaft ist für Neuerungen nicht so aufgeschlossen", sagt Portmann. Nach vier Wochen wurde das Brot nicht mehr in den Ofen geschoben.

Auch für Aktionskünstler standen Portmanns Schafe schon Modell. Ein Künstlerehepaar aus Mitte wollte auf die besondere Beziehung zwischen Mensch und Tier aufmerksam machen und stellte sich einige Nachmittage nackt mit einem Schaf in ein angemietetes Schaufenster in den Hackeschen Höfen. Ein anderes Schaf der Portmanns hatte schon mal im Theater einen Auftritt, als es mit gefärbter Wolle über die Bretter des "Praters" schritt. Allerdings hatten die Schauspieler danach große Mühe, das Schaf nach vollbrachter Darbietung wieder von der Bühne zu locken. Da halfen schließlich eilig besorgte Möhrenbünde. "Das war ein echtes Rampenschaf", schmunzelt Martin Portmann.

Häufigster Verwendungszweck beim Ausleihen bleibt aber der gewöhnliche Spaziergang. Portmann hat vom Forstamt für solche Schäferstunden extra eine Erlaubnis zum freien, also leinenlosen Laufen erhalten. Doch nicht nur Mensch und Schaf lernen sich bei diesen Ausflügen näher kennen. "Mit manchen Schafbegeisterten haben wir schon langjährige Freundschaften geschlossen", sagt Portmann.

Eine besondere Beziehung hat die Familie zu Tinka aufgebaut. Das Merinoschaf hat Martin Portmann mit der Milchflasche von Hand aufgezogen, als es zwei Wochen alt war. "Es hätte im Bauernhof nicht überlebt", sagt der Bäckermeister. Das war vor anderthalb Jahren. Zusammen mit dem gleichaltrigen Tiberius versteht sich Tinka prächtig. "Die beiden sind bisher unser pflegeleichtestes und ruhigstes Paar", sagt Portmann und blickt versonnen in die hinwegziehenden Schäfchenwolken.

Dann drückt er das Zigarillo in einen Aschenbecher und tätschelt die tiefe Wolle der beiden Tiere: "Sehr wahrscheinlich werden wir sie diesmal behalten", sagt er. Damit scheinen Familienkatastrophen abgewendet.

Alexander Schäfer

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