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Berlin: Fußmassage per Presslufthammer

Wohnen auf einer Baustelle: Die Rathauspassagen am Fernsehturm gehörten einst zu den beliebtesten Einkaufszentren Ost-Berlins Inzwischen sind die unteren Etagen in Schutt gelegt, und in den Stockwerken darüber vibrieren bei den Mietern die Böden

Von Christian van Lessen

„Heute gibt’s wieder Fußreflexzonen-Massage“, muntert Allgemeinmediziner Horst Reichel im zweiten Obergeschoss seine Patienten auf. Der Boden bebt, draußen auf dem Vordach dröhnt ein Presslufthammer. Reichel nimmt mit Galgenhumor, was nicht zu ändern ist. Die Patienten sind froh, an einer Schlucht von Bauzäunen vorbei den Weg zum Arzt gefunden zu haben. Und nun haben sie die Fußmassage wieder mal gratis, so wie das dumpfe Brummen eines Bohrers, der nicht aus der Zahnarztpraxis nebenan tönt, sondern der unteren Etage. Dort werden gerade die Fußböden eines ehemaligen italienischen Eiscafés aufgerissen, die Bauarbeiter müssen Staubmasken aufsetzen.

Reichel und mehrere Kollegen haben mit 360 Mieterhaushalten in den Obergeschossen einiges auszuhalten, seit die Rathauspassagen umgebaut werden und die unteren Etagen wie eine Mondlandschaft aussehen. „Oben hui, unten pfui“, sagen die Bewohner in ihren vor sieben Jahren sanierten Wohnungen. Und sie vergleichen ihr Haus mit einem aufgebockten Auto vor dem Reifenwechsel. Wenigstens gibt es Mietnachlass von 20 Prozent. Das dämpft auch diejenigen im Haus, die ohnehin über alles schimpfen.

So etwas hat es in Berlin in diesem Ausmaß noch nie gegeben: Ein großer Gebäudekomplex wird in seinen Untergeschossen bis auf tragende Wände komplett erneuert. Bis zum Oktober nächsten Jahres will die WBMI, die Immobilien-Tochter der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, für 63 Millionen Euro ein attraktives Einkaufszentrum mit dem amerikanischen Supermarkt Wal-Mart als Hauptmieter eingerichtet haben. Zwei Parkhäuser und ein Bürogebäude an der hinteren Ecke zum Rathaus sollen die Passagen auf der Rückseite ergänzen, der zerfransten Grunerstraße eine Fassung geben und eine optische Verbindung zur Klosterstraße gegenüber schaffen. Ein „neues, freundliches Gesicht“ wird versprochen. Es ist das Projekt, in das Senatsbaudirektor, Hans Stimmann, symbolisch betrachtet, eine Bombe schmeißen wollte. Nun, wo der Beton von Vordächern zerhackt, Wände und Böden aufgerissen werden, wo es staubt und stinkt, sieht es wirklich fast so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Der Senatsbaudirektor musste sich gegenüber Wal-Mart – zwei Wochen nach dem Terroranschlag vom 11. September – entschuldigen. Seitdem ist das Bauvorhaben zwischen neuem Cubix-Kino und Rathaus zumindest wirklich bekannt geworden. Inzwischen ließ die WBMI die neue Rückseite vom Architekturbüro Kny & Weber überarbeiten und auflockern, und Stadtentwicklungssenator Peter Strieder schwärmte schon, mit mit den neuen Rathauspassagen werde das Areal am Fernsehturm „aus seiner kleinstädtischen Abschottung befreit“.

Kleinstädtisch fühlen sich die Mieter angesichts der Nähe zum Alex nicht. Die Rathauspassagen sollten stets Großstadt symbolisieren. Unter der Leitung des späteren Palast-der-Republik-Architekten Heinz Graffunder waren 1969 die drei auf Stelzen stehenden Wohnhäuser errichtet worden, umschlossen von einem zweigeschossigen Flachbau mit Höfen und Durchgängen. Die Neubauten sollten mit den gegenüberliegenden Häusern an der Karl-Liebknecht-Straße die „großstädtische Kulisse“ am Fernsehturm bilden. Sie wurden zudem eines der wichtigsten Geschäftszentren Ost-Berlins, bis die Einkaufszone in den neunziger Jahren wirtschaftlich auf der Strecke blieb, verkam und zum Schandfleck wurde. Die Geschäfte unten liefen nicht oder hatten es zumindest schwer, die schmuddlig gewordene Passage schreckte Kunden ab.

Bis zum Frühjahr hielt nur noch die Bowlingbahn aus, die 1971 eröffnet wurde und damals eine Sensation in Ost-Berlin und der DDR war. Vor sieben Jahren war die Anlage nach einem Umbau wieder in Betrieb genommen worden. Als saniertes und renoviertes Bowling-Center soll sie auferstehen.

Eva Schweinberger spielte nie Bowling im Untergeschoss. Mit ihrem Mann wohnt sie in der Rathausstraße 11, einem der Gebäudeteile, die besonders von Bauzäunen eingezwängt sind. Die ehemalige Büroangestellte gehört zu dem Großteil der Mieter, die seit Anbeginn hier wohnen. Sie steht manchmal auf dem noch zugänglichen Teil der Abbruch-Terrasse, schaut in die Kraterlandschaft zu ihren Füßen und auf den Fernsehturm über dem Dach. „Ich freue mich, dass es schöner wird, dass etwas getan wird.“

Als Eva Schweinberger einzog – die Wohnung war ihr als Ersatz für eine unbenutzbare Neubauwohnung in Heinersdorf angeboten worden – empfand sie die neue Umgebung wie einen Lottogewinn. Der allmähliche Verfall der Passagen, das Ende der Bowlingbahn, der Auszug der Musikschule, drückte auf die Stimmung. Nun wissen die Schweinbergers, die im achten Stock wohnen, nicht, ob ihnen die Sicht auf den Alex durch die neuen siebenstöckigen Parkhäuser verbaut wird.

Ursula Finck wohnt im elften Stock, bekommt vom Lärm unten wenig mit. Die 80-Jährige lebt seit 1970 in der Dreizimmerwohnung. Es sei schon ein Privileg gewesen, hier einzuziehen, sagt die frühere Zeitungsmitarbeiterin. Betriebe und Behörden sicherten sich hier Dienstwohnungen, auch Bewohner von Abrisshäusern erhielten über den Passagen ein neues, modernes Zuhause, das nicht vom üblichen Plattenbau-Look gezeichnet war. Und auch die Geschäfte entsprachen nicht dem üblichen Ost-Berliner Standard, allein drei Schuhgeschäfte gab es, nette Cafés und Restaurants, die gern von Gästen aus dem Westen besucht wurden, und es gab einen Delikat-Laden, in dem Ost-Berliner mit Westgeld Westwaren kaufen konnten. „Ich bin ein Typ, der sich nicht aufregt“, sagt Ursula Finck gelassen. „Es wird endlich wieder schöner.“

Die alten Passagen sind bald Schutt der Geschichte. SB-Supermarkt im ersten Obergeschoss, Geschäfte, Gastronomie im Erdgeschoss, unten die neue Bowlingbahn, dazu Büros und 600 Autostellplätze – das ist die Zukunft. Platz für Arztpraxen bleibt. Bis zur Eröffnung der neuen Passagen wird es für Mediziner und Patienten noch manche ungewollte Fußreflexzonen-Massage geben.

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