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Berlin: Gänse-Marsch

Franz Zander lud zum Weihnachtsfest für Bedürftige ins Estrel nach Neukölln. 2800 Gäste kamen Es gab nicht nur kleine Geschenke und ein warmes Essen, sondern auch Massagen und Musik

Viele stehen schon seit elf in der Kälte, dabei beginnt der Einlass erst gegen halb drei. In einigen Plastiktüten stecken Schlafsäcke, manchem Wartenden ist die Winterjacke viel zu groß, andere tragen löchrige Strümpfe. Auch ein schwerbehinderter Mann mit Gehhilfe steht in der Schlange. „Ich wollte unbedingt kommen“, sagt er. Nicht nur für ihn, für zahlreiche arme Berliner ist dieser Tag seit 16 Jahren etwas ganz Besonderes: Es ist der Tag, an dem Frank Zander rund 2800 wohnungslose und bedürftige Menschen zu Gänsebraten und Knödeln, zu Geselligkeit, Musik und Tanz ins Neuköllner Hotel Estrel einlädt.

Finanziert und getragen wird das Fest aus Spenden und von freiwilligen Helfern. Die BVG setzt für den Transport der Gäste an die Sonnenallee fünf doppelstöckige Busse ein. Das Hotel gibt 2800 Gänsebraten zum Sonderpreis heraus, spendiert den Kuchennachtisch und stellt das Kongresszentrum, Technik und Personal. Dazu kommen rund 40 weitere Firmenspenden und private Geldspenden. Die Gäste können sich die Haare schneiden und massieren lassen, es gibt Obst und Süßigkeiten und zahlreiche kleine Geschenke – auch für Kinder, die sich an großen Tischen Teddybären, Puppen und Baukästen aussuchen. Die traurige Wahrheit allerdings ist, dass dieses Fest längst nicht mehr nur Obdachlose besuchen. Auch viele sind hier, die eine Wohnung haben, deren Grundsicherung aber nicht reicht für ein Weihnachtsessen, Spielzeug für die Kinder oder gar einen Friseurbesuch. Erstmals ist es in diesem Jahr passiert, dass sogar 200 Menschen draußen warten mussten und erst nach dem Essen Einlass fanden, weil es an den Tischen keinen Platz mehr gab.

Heinz-Dieter Alpert ist zum dritten Mal dabei – allein, so wie er auch lebt. Die Kinder wohnen im Sauerland, mit seiner früheren Lebensgefährtin hat der 63-Jährige nur noch sporadisch Kontakt. Zwar hat Alpert in Kreuzberg zurzeit eine vom Sozialamt finanzierte Wohnung, doch er muss dort schon länger ohne Strom und Gas auskommen – als Diabetiker und Herzpatient brauche er acht Medikamente, das Geld dafür werde ihm vom Sozialamt nicht mehr erstattet. „Dieses Fest ist eins von wenigen Highlights im Jahr“, sagt er. Tränen laufen ihm über die Wangen, doch seine Augen und auch der Mund mit den wenigen verbliebenen Zähnen lächeln. Zweimal war der seit 2003 trockene Alkoholiker länger obdachlos. „Im Winter habe ich in U-Bahnen geschlafen und bin ziellos durch die Stadt gelaufen, damit meine Füße warm blieben”, erzählt er. Früher hat er mal am Kurfürstendamm gelebt, als Schweißer gearbeitet und gutes Geld verdient, doch durch die Drogenabhängigkeit seiner Lebensgefährtin und den eigenen Alkoholismus geriet er in eine Spirale der Armut und Hoffnungslosigkeit.

Heute versucht er, trotz seiner großen Einsamkeit stark zu bleiben: Er liest viel, zurzeit die Reportagen, Rezensionen und Gedichte von Erich Kästner („einem der am meisten unterschätzten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“) und möchte nicht aufgeben, immer Neues lernen. „Es wäre schön, wenn ich einen Internet- oder Fotografiekurs machen könnte“, sagt er. Dann wendet sich seine Aufmerksamkeit der Bühne zu. Dort begrüßt Marcus Zander, Sohn von Frank und Organisator des Festes, gerade die Gäste und kündigt den Gänsebraten an.

Der wird an den 270 festlich geschmückten Tischen traditionell von Prominenten serviert, darunter in diesem Jahr Heidi Knake-Werner, Axel Schulz und die Wiederholungstäter Heinz Buschkowsky und Wolfgang Lippert. Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast ist zum ersten Mal dabei, 2009 sei die Einladung so spät gekommen, sagt sie. „Es macht Spaß, diesen Menschen mit Respekt zu begegnen und ihnen formvollendet zu servieren“, sagt Künast und jongliert souverän zwei Teller mit Gänsekeulen. Woher sie das so gut kann? „Ich war als Studentin Kellnerin.“ Ihr Konkurrent von der SPD, der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, ist nicht da.

Nach dem Essen beginnt der unterhaltsame Teil des Abends. Auf der großen Bühne geben sich Hans Werner Olm, Gary Garrison und Frank Zander das Mikro in die Hand. Die Stimmung ist fröhlich, einige tanzen. Manche allein, versunken schunkeln sie zu einem alten Rockklassiker. Andere schwofen zu zweit, nicht immer ganz taktsicher, dafür um so fröhlicher. In ihrem strahlenden Lächeln spiegelt sich die Freude an diesem Augenblick, zu dem Kälte, Einsamkeit und Not keinen Zutritt haben.

Heinz-Dieter Alpert sitzt währenddessen am Rand der Tanzfläche, tanzen kann er wegen seiner kranken Hüfte nicht mehr. Doch seine Augen glänzen.

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