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Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh.

© Doris Spiekermann-Klaas

Gastbeitrag von Raed Saleh: Die SPD muss wieder lernen zu träumen

Der Berliner SPD-Fraktionschef meint: Das Beispiel Labour Party zeigt, dass eine Politik jenseits neoliberaler Sachzwänge möglich ist.

Neulich war ich wieder an einem dieser Orte in unserer Stadt, wo es „riecht und laut ist“, einer alten Eckkneipe in Spandau. Die ganz normalen Berliner kommen da hin, viele sind Stammgäste, und trinken ihr Feierabendbier. Sie sprachen mit mir über das, was sie bewegt: steigende Mieten, Diebstähle im Kiez, mangelnde Sauberkeit in den öffentlichen Parks und natürlich auch über die Flüchtlingspolitik. Aus meiner Sicht sind das ursozialdemokratische Themen. Und politische Herausforderungen, auf die wir Antworten finden müssen.

Mir wurde wieder einmal bewusst, dass es für die Menschen keine Selbstverständlichkeit mehr ist, sich mit ihren Sorgen und Anliegen an die Politik zu wenden. Sie glauben uns nicht, dass wir ihnen zuhören, dass wir sie ernst nehmen, dass wir etwas ändern wollen und können. Das ist bitter für mich, für meine Partei. Ich bin in die Politik gegangen, um Dinge zu verbessern. Die Anliegen der „kleinen Leute“ zu vertreten, das ist der Gründungsgedanke der Sozialdemokratie. Und heute? Wir, die Sozialdemokraten, aber auch alle anderen sogenannten „etablierten“ Parteien haben ein Vermittlungsproblem. Wir müssen uns fragen, was wir falsch machen.

Denn zeitgleich mit unserer Schwäche erstarken andere, radikale Kräfte. Sie bieten den Menschen vermeintliche einfachere Lösungen für immer kompliziertere Probleme an. Dabei geht es ihnen nicht darum, die Gesellschaft für alle besser zu machen, sondern zu spalten. Diese Entwicklung findet in vielen europäischen Ländern und darüber hinaus statt. Wir befinden uns an einem Scheideweg der Geschichte, in denen die aufgeklärten Gesellschaften ihren Standort neu bestimmen müssen.

In Frankreich steht Marine Le Pen hoch im Kurs, in Großbritannien diktiert Nigel Farages Ukip schon länger die (Anti-)Europapolitik der Regierung. In den Niederlanden erlebt Geert Wilders ein Comeback. Und in den USA stehen die Konservativen davor, einen zum Teil offen rassistisch argumentierenden Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten zu wählen. Neue Rechte regieren in Polen und schon länger in Ungarn. In Österreich hat jüngst ein FPÖ-Kandidat die meisten Stimmen bei der Wahl zum Bundespräsidenten erhalten.

Das Gefühl, dass die Mitte der Gesellschaft betrogen wird

Dieses Phänomen ist nicht einfach nur ein Rechtsruck wie in den 80er Jahren mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl. Die meisten Konservativen, die ich kenne, fühlen sich von einem Björn Höcke genauso abgeschreckt wie ich. Die neuen Rechten vertreten keine konservativen Werte. Sie beziehen sich auf wirre Verschwörungstheorien über geheime internationale Mächte, die Deutschland von außen steuern würden.

Zugleich verbindet sie die Ablehnung des Islam. Statt gegen Salafismus und Dschihadismus als politische Ideologien mit religiösem Zuckerguss zu kämpfen, greifen neue Rechte den Islam an sich an – und legen damit Axt an die wichtigste Errungenschaft der Aufklärung, die Religionsfreiheit. Zum neu-rechten Weltbild gehört auch eine widersprüchliche und geradezu irrationale Kritik an supranationalen Organisationen wie der EU, aber auch an der gemeinsamen Währung, dem Euro. Gegen Euro und EU werden stets nur die Kosten ins Feld geführt, jeder Nutzen aber außen vor gelassen.

Medienkritik wird von diesen Rechten als Immunisierung gegen Argumente und Fakten genutzt: Donald Trump beschimpft selbst Journalisten von Fox News. Das schlimme Wort von der „Lügenpresse“ ist in Deutschland mittlerweile normaler Sprachgebrauch.

Die neuen Rechten – und das ist ihr wirkliches Erfolgsrezept – profitieren davon, dass sie sich als Tabubrecher darstellen: Gegen die politische Korrektheit, gegen die Eliten, gegen das, was man wegen eines „linken Meinungskartells“ angeblich nicht mehr sagen dürfe. Oft brechen die Rechten dabei nicht gesellschaftliche Tabus, sondern einfach nur die Regeln des Anstands und der Höflichkeit.

Mittlerweile habe ich in Spandau zu über 20 Stammtisch-Runden in Kiez- und Eckkneipen eingeladen, mit Bürgern gesprochen, diskutiert und ziemlich viele Dinge gehört, die ich eigentlich von jedem Familienfest kenne. Junge Menschen um die 30 sagen: „Ich kriege eh keine Rente mehr, bis dahin gibt es Essenmarken.“ Ältere Menschen sagen: „Die Pharma-Unternehmen und die Krankenhäuser wollen mit uns sowieso nur Geld verdienen.“ Komplett verbreitet ist die These: „Die Banken haben mehr Macht als die Parlamente.“ All das sind Sätze, die man in Parlamenten und Talkshows nicht hört. Es herrscht über alle Lager, Schichten und Altersgruppen hinweg das Gefühl vor, dass die Mitte der Gesellschaft betrogen wird. 

Wohlstand wird nicht erarbeitet, sondern geerbt

Bisher hat jede Generation nach dem zweiten Weltkrieg daran geglaubt, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird. Wenn man heute den Jungakademiker sieht, der sieben Praktika im Ausland gemacht hat und drei Sprachen spricht, wie er auf dem weltweiten Arbeitsmarkt um befristete Stellen kämpft, wird schnell klar: Selbst am oberen Ende der Bildungsskala glauben die allerwenigsten noch daran, dass es den Kindern der Babyboomer-Generation einmal besser als ihren Eltern gehen wird. Wohlstand wird schon längst nicht mehr erarbeitet, sondern geerbt.

Das Gefühl, betrogen zu werden und das Verschwinden eines generellen Optimismus kam nicht von heute auf morgen. Aber es gab einen Wendepunkt, der beide Gefühlslagen offen gelegt hat: Die Finanzkrise von 2007 war der Beweis dafür, welch zerstörerische Kraft der entfesselte Finanzkapitalismus hat.

Man darf nie vergessen, dass Deutschland dabei glimpflich davon gekommen ist: Wir mussten mit Steuergeldern Banken retten, in den südlichen Ländern Europas hingegen herrscht bis heute eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent. Ganze Generationen von Europäern sind seit fast zehn Jahren ohne eine wirtschaftliche Perspektive. Parallel dazu konzentriert sich der Reichtum immer mehr. Noch nie war die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie heute, auch in Deutschland.

Pegida, die Flüchtlingskrise, die Ergebnisse bei den letzten Landtagswahlen, die Terroranschläge in Europa und auf der ganzen Welt: Viele befürchten, wir sind auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die ihren Halt verliert. Es entsteht das Gefühl, dass die eigene Gesellschaft verletzlich durch die Konflikte und Widersprüche der Welt ist – aber zugleich der Einfluss und die Möglichkeiten zur Gestaltung sinken. So wird Ohnmacht zum prägenden Gefühl. Bei manchen Menschen wird aus dieser Ohnmacht Wut – und aus dieser Wut Zustimmung für neue Rechte.

Es gibt auch auf der linken Seite eine erstaunliche Vitalität

Der neoliberale, globale Kapitalismus hat in der Finanzkrise seine Legitimität verloren und ist als Integrationsmodell gescheitert. Denn die Menschen haben längst nicht mehr den Eindruck, dass sie an steigendem Wohlstand teilhaben, oder dass dieser Wohlstand nachhaltig sein wird. Auf der rechten Achse des politischen Spektrums erscheinen alte Muster wieder: Als Sündenböcke werden Amerika, die EU, die Moslems oder die Medien identifiziert und eine einfache politische „Lösung“ angeboten: Die Spaltung der Gesellschaft.

Deshalb müssen wir uns fragen, in welchem Wirtschaftsmodell wir leben wollen. Wer steuert den Rechtsstaat: Die  demokratisch legitimierten Parlamente oder die Konzerne? Diese Fragen stehen auch hinter der breiten Skepsis in der Bevölkerung gegenüber den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Das kam zum Ausdruck, als im letzten Jahr Hunderttausende in Berlin auf die Straße gingen. Über Jahrzehnte galt es als Annahme, dass Freihandel zu mehr Wohlstand führt. Doch wer glaubt heute noch daran, dass dieser Wohlstand auch bei der breiten Bevölkerung ankommt? Die Rechten nutzen dieses grundlegende Gefühl dann für einen plumpen Anti-Amerikanismus aus.

Es gibt aber auch auf der linken Seite des politischen Spektrums eine erstaunliche Vitalität. In England wurde mit Jeremy Corbyn jemand an die Spitze der Labour-Partei gewählt, dessen Programm vielleicht in ganz Großbritannien noch nicht mehrheitsfähig sein mag – der aber nach dem Ende der Ära Blair und dem „New Labour“ der Partei überhaupt wieder Glaubwürdigkeit zurück gibt: Auch wenn man ihm nicht zustimmt, weiß man wenigstens, dass er meint, was er sagt.

Bernie Sanders zieht Hillary Clinton in den Kern des sozialdemokratischen Spektrums zurück. In Spanien hat mit Podemos quasi über Nacht eine neue linke Partei die klassischen Sozialisten einerseits in Bedrängnis gebracht, andererseits für Mehrheiten jenseits der Konservativen gesorgt. In Griechenland hat mit Syriza gleich eine komplette Ersetzung der dortigen Sozialdemokratie stattgefunden. 

Höchstrendite für Wohneigentum und Höchstlöhne für Manager

Die Alternative zu den neuen Rechten ist also die Neuerfindung der Sozialdemokratie. All jene, die nicht die Spaltung der Gesellschaft wollen, warten darauf, dass die SPD wieder zu einer gesellschaftspolitisch starken Alternative wird. Eine Partei, die gegen die Spaltungspolitik der Rechten eine Politik der Versöhnung stellt.

Die Erneuerung linker Volksparteien beginnt damit, dass sie höchste Ansprüche an ihre Glaubwürdigkeit und Integrität stellen. Gemeinsam ist allen neuen linken Kräften auch, dass sie eine Vision formulieren. Bei Podemos heißt es: „Wir können.“ Bernie Sanders nennt es „eine politische Revolution.“ Die Aussage ist, dass eine andere Politik jenseits neoliberaler Sachzwänge und bestehender politischer Dogmen möglich ist.

Eine Politik jenseits der Sachzwänge

Auch in Deutschland lägen die sozialdemokratischen Themen eigentlich auf der Hand: Eine gerechte Erbschaftssteuer, ein neuer Anlauf zur Bürgerversicherung, die Rekommunalisierung der Daseinsvorsorge sowie die gemeinnützige Neuordnung des Pflegewesens, eine faire Rente, eine Vermögenssteuer, gebührenfreie Bildung.

Die explodierenden Mieten muss die SPD härter als durch das bisherige Mietrecht angehen – das komplett legal zulässt, innerhalb von 15 Jahren eine Miete zu verdoppeln. Warum schlagen wir nicht eine Höchstrendite für Wohneigentum vor? Höchstlöhne für Manager – wie sie in Israel zum Beispiel für Banker derzeit diskutiert werden – sorgen wieder dafür, dass Führungsebenen und Mitarbeiter wirklich in einem Boot sitzen. Eine Reform der Unternehmensbesteuerung sorgt dafür, dass die globale Konzerne, die bei uns Geld verdienen aber Steueroasen nutzen bei uns zusätzliche Strafsteuern zahlen.

Gegen eine rechte Politik der Spaltung muss die SPD eine Politik setzen, die auf die Versöhnung und das Miteinander der Gesellschaft setzt. Dafür muss sie jenseits neoliberaler Logik und traditioneller Sachzwänge denken. Wenn wir nicht das Risiko eingehen, dass man unsere Ideen für allzu visionär hält, dann gehen wir das Risiko ein, bedeutungslos zu werden. Die SPD muss wieder lernen, zu träumen, damit sie wirklich etwas verändern kann.

Raed Saleh

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