zum Hauptinhalt

Berlin: Geburtstagsfest auf dem Todesstreifen

Charlotte Hildebrandt kämpft um ihr Mauergrundstück. Sie wurde 96 und feierte einen kleinen Sieg

„Sind Sie verrückt? Ich bin doch nicht so alt geworden, um aufzugeben.“ Charlotte Hildebrandt lacht triumphierend. Sie feierte gestern ihren 96. Geburtstag und einen kleinen Etappensieg im Streit mit der Bundesrepublik – aber nicht etwa zu Hause in Wien im Wohnzimmer, sondern in Treptow im Zelt. Das hat ihr Sohn Joachim auf die schneebedeckte Freifläche in der Bouchéstraße/Ecke Harzer Straße gestellt. Denn der Geburtstag ist eine politische Demonstration: „gegen die Ungerechtigkeit, die die Bundesrepublik uns antut“, sagt die alte Dame.

Das 5600 Quadratmeter große, unbebaute Grundstück im Treptower Wohngebiet gehörte bis 1962 den Hildebrandts, dann hat es die DDR enteignet und die Mauer gebaut. Heute beansprucht es die Bundesrepublik, die es nicht herausgeben will, es sei denn die Alteigentümer kaufen es ab. So regelt es das Mauergrundstücksgesetz von 1996.

Das aber sieht Charlotte Hildebrandt nicht ein. Schließlich sei die Enteignung illegal gewesen. 1937 hatten sie und ihr Mann das Gelände gekauft, um darauf eine Wohnanlage zu bauen. Der Krieg kam dazwischen, die Hildebrandts flohen nach Wien, wo Mutter und Sohn heute noch leben. Zur Feier ins Zelt kamen gestern viele Verbündete der Hildebrandts, auch sie alle ehemalige Eigentümer von Mauergrundstücken. Bei Suppe und Schnittchen feierten sie nicht nur den 96. Geburtstag, sondern die Tatsache, dass die Bundesrepublik bei einer Verhandlung um ein Mauergrundstück im Berliner Landgericht gestern Vormittag erstmals zu einem Vergleich bereit war. Die Details müssen zwar noch ausgehandelt werden. „Aber zum ersten Mal ist die Bundesrepublik bereit, das Grundbuch zu berichtigen“, sagt Anwalt Thorsten Purps, der die Alteigentümer vertritt.

Bislang hat die Bundesrepublik alle Verwaltungsakte der DDR und damit auch den Mauerbau und die damit einhergehenden Enteignungen anerkannt. Die Vertreterin der Bundesrepublik vor Gericht äußerte gestern denn auch die Sorge, einen Präzendenzfall zu schaffen. „Da sehe ich eine große Welle von Fällen auf uns zukommen“, sagte Heidrun Hendricks. „Wir sind ein großes Stück weiter“, sagte Purps – auch weil der Bundesgerichtshof (BGH) vor drei Wochen beschlossen hat, dass das Mauergrundstücksgesetz nicht mehr das letzte Maß sein soll.

Auch Alteigentümer Wolfgang Pütz prostete Charlotte Hildebrandt zu. Das Kammergericht hatte die Klage wegen seines Grundstücks in Staaken am Freitag abgewiesen, aber die Revision vor dem BGH zugelassen. Charlotte Hildebrandt hofft, dass nun auch ihr Fall, der bereits einmal vor dem Landgericht gescheitert ist, neu aufgerollt werden kann.

Wenn wir vor dem BGH gewinnen oder sich der Bund auf einen Vergleich einlässt, könnte das Folgen für viele haben, etwa auch für das Gelände am Checkpoint Charlie, sagt Purps. „Ich würde wieder hierherziehen“, sagt die 96-Jährige. Bekäme sie das Grundstück zurück, würde ihr Sohn die Baupläne des Vaters verwirklichen, 60 Jahre später.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false