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Gedächtniskirche: Glaubenskampf um eine Ruine

50 Jahre neue Gedächtniskirche: Architekt Egon Eiermann wollte den alten Bau eigentlich abreißen. Der Tagesspiegel kämpfte dagegen an - so wie viele Berliner.

Die neue Gedächtniskirche, die am 17. Dezember 1961 eingeweiht wurde, war für West-Berlin über Jahrzehnte hinweg ein berühmtes, ja geliebtes Wahrzeichen und eine Hauptsehenswürdigkeit der Halbstadt. Kein Bildband, kein Reiseführer, keine Berlin-Reportage, die nicht dieses ungewöhnliche, bewegende Ensemble gezeigt hätte, das auf den Entwurf des Architekten Egon Eiermann zurückgeht. In ihm, so kann man sagen, erkannte sich die Stadt selbst, so wie sie in ihm erkannt werden wollte: der achteckige Glas-Kubus mit seinen leuchtenden Waben und die alte Turmruine, das Signal der Moderne und die Erinnerung an die Vergangenheit, das Zeichen des Aufbruchs und das Sinnbild für die Folgen von Krieg und Zerstörung.

Allerdings ist diese Ikone Berlins keineswegs das, was der damals berühmte Architekt ursprünglich entworfen hatte. Eiermann, entschiedener Vertreter des neuen Bauens, hatte einen Bau in klaren geometrischen Formen konzipiert, dem selbstverständlich die Turmruine zum Opfer fallen sollte. Erst der Widerstand der Berliner gegen den Abriss führte zu dem Bild, das zum Symbol geworden ist. Das Jubiläum, das jetzt gefeiert wird, gilt mithin nicht nur dem Aufbau-Willen der Berliner, der damals die Stadt erfasste – es ist die Zeit der Errichtung des Hansaviertels, der Kongresshalle und des Hilton-Hotels in der Budapester Straße –, sondern auch der Bewahrung, dem Widerstreben gegen die Moderne.

Die neue Gedächtniskirche ist damit auch ein Zeugnis des hartnäckigen Willens der Berliner, wenigstens Spuren von Kaiserzeit und Weimarer Republik zu erhalten. Diese Phasen der Stadtgeschichte hatten hier einen Brennpunkt – „bei uns um die Gedächtniskirche rum“ hieß eine Revue von Friedrich Hollaender, und das Romanische Café, berühmter Treffpunkt der Literaten, lag gegenüber. Der Abriss der 1943 schwer beschädigten Kirche war übrigens seit Kriegsende beabsichtigt – und bekämpft worden. Aber während der Senat eher dafür war, entwickelte sich in der Nachkriegszeit ein „Gefühlsrausch“ zugunsten des alten Turmes – wie die Zeitung „Der Abend“ formulierte. Dieser Rausch explodierte regelrecht, als Eiermanns Tabula-rasa-Entwurf bekannt wurde: Es erhob sich, so der Tagesspiegel, „ein Sturm der Entrüstung“, der „durch ganz Berlin fegt“. Der damalige Chefredakteur Karl Silex zog sogar mit einem Leitartikel gegen den Abriss zu Felde. Sollen sich die Berliner in Zukunft nicht mehr „an der Gedächtniskirche“, sondern am „Streichholz“ verabreden, gab er ironisch zu bedenken, indem er auf den schlanken Betonstab anspielte, den Eiermann statt des Turmes vorsah. Es treffe auch nicht zu, dass – wie die Abrissbefürworter argumentierten – der Turm für die Gegenwart keine Bedeutung mehr habe. Im Gegenteil: Der „Gedächtnisturm, der uns und kommenden Generationen etwas sagt, ist doch erst durch die Zerbombung der Kirche, durch die Zerbombung Deutschlands überhaupt, zu dem aus der Zerstörung aufragenden Mahnmal“ geworden.

Eine Woge kontroverser Leserbriefe trieb die Debatte weiter. Sie schwankte zwischen der Baugesinnung der fünfziger Jahre und der Anhänglichkeit an die alte Stadt und das, was von ihr übrig geblieben war. Architekten und Kunsthistoriker standen zumeist auf der Seite Eiermanns. „Wenn uns jemand vor 30, 40 Jahren gesagt hätte, dass um die Erhaltung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eines Tages heftig gestritten würde und dass Berlin sich auf den Kopf stellt, um wenigstens den Turm zu erhalten, hätte es ein schallendes Gelächter gegeben“, schrieb der Kunstkritiker Will Grohmann. Wenn der Turm bleiben solle, dann sollte die neue Kirche anderswo errichtet werden. Die Verschmelzung von beiden, so der Architekt Wassili Luckhardt, führe nicht „zu einem künstlerisch befriedigenden Resultat“. Sie sei ein „Kuriosum“.

Ganz anders die Sicht der Mehrheit. Dass „man den Berlinern ein Stück Erinnerung aus dem Herzen reißt, an dem sie am meisten hängen“, fürchtet eine Dame in Halensee. Einen „schweren Schock“ empfindet ein Schreiber in Grunewald, der Turm sei das „markanteste architektonische Symbol des Kurfürstendamms“. Auch findet sich der Appell: „Alle Berliner sollten zu einem Protestmarsch antreten.“ Und ein Ingenieur sieht eine Gruppe „hypermoderner Architekten“ am Werke „unter Hintansetzung aller fest in den Berliner Herzen sitzenden Empfindungen“. Nach zwei ganzseitigen Leserbrief-Gewittern kapituliert die Zeitung: keine Fortsetzung, Kapazitätsgrenze erreicht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich der Tagesspiegel damals positionierte.

Im Hinblick „auf die Fülle der Zuschriften und telephonischen Anrufe“ druckte der Tagesspiegel jedoch einen Stimmzettel ab. Er soll zu einer „ernsthaften, von Vorurteilen freien Klärung in dieser alle Berliner angehenden Angelegenheit beitragen“. 11737 Leser füllten ihn aus, über 90 Prozent stimmten für die Erhaltung des Turmes. Die Anregung des Blattes, die Turmruine zu erhalten und ihr gegenüber den Entwurf von Eiermann zu errichten – also das, was den Knoten auflöste –, wird allerdings nur von 30,6 Prozent bejaht. Vorsorglich testet man die Haltung gegenüber modernen Kirchenbauten überhaupt und registriert erfreut: Die große Mehrheit besteht nicht aus generellen Gegnern der Moderne.

Unter dem Druck der Empörung kippte das Kuratorium. Eiermann hielt zunächst an seinem Entwurf fest, aber noch vor dem Ende des Jahres 1957 lenkte er ein – ein neuer Entwurf platzierte Turm und Glasquader nebeneinander. Schließlich kam er zu dem Schluss, den man als höhere Einsicht oder Kapitulation vor dem Widerstand deuten kann: „Meine Kirche könnte in jeder Stadt stehen, aber mit der Turmruine verbunden ist sie ein einmaliges, nur in Berlin mögliches Bauwerk“.

An welche Tiefenschichten des damaligen Berlins die Auseinandersetzung rührt, lässt die Glosse ahnen, mit der Günter Matthes, legendäre Gestalt des Berliner Nachkriegsjournalismus, im Tagesspiegel die Einweihung im Dezember 1961 begleitete. Der nüchtern-kritische Journalist spart nicht an Metaphern. Er spürt, wie der „heiße Atem der Geschichte über den festlichen Akt“ weht. „Der Sekundenzeiger der Geschichte rückt ein Stück weiter. Ein neues Kapitel von Berlin W wird aufgeschlagen.“ Und dann – notabene: vier Monate nach dem Mauerbau – inspiriert ihn die Einweihung der Gedächtniskirche zu einer denkwürdigen Apotheose Berlins, „diesem Schauplatz deutscher Möglichkeiten zwischen Preußens Gloria und Romanischem Literaten-Café, zwischen Hitler-Terror und freiheitlichem Behauptungswillen, diesem himmelhochjauchzend zu Tode betrübten heißen Herzen der Weltstadt, einst nur ein heller Planet der City-Sonne, nun von der Weltpolitik zum eigenen Strahlen bestimmt.“

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