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Gedenken und Erinnerung: Die Spur der Lücke

Erinnern macht Arbeit, wie Cliewe Juritza weiß. Als Stadtführer erklärt er die Berliner Mauer. Und manchmal wirkt dabei der Graben zwischen gestern und heute unendlich breit.

Aus den Akten geht hervor, dass er im Gefängnis beim Zahnarzt gewesen sein muss. Er hat aber keine Erinnerung daran. Er, der hauptamtliche Erinnerer Cliewe Juritza, hat Erinnerungslücken. Damit fängt es ja schon an.

Er steht in der Berliner Sonne, am Stuttgarter Platz, an die Fassade eines Jugendhotels mit dem Namen „Happy Go Lucky“ gelehnt und lässt Zeit verstreichen. Es ist zehn nach zehn, zehn Minuten also ist seine Verabredung schon zu spät dran. Er will ihr ein bisschen von der Stadt zeigen, ein verschwindend kleines Bisschen, das das Denken an sie aber prägt wie nichts anderes. Cliewe Juritza, Stadtführer, angelehnt an eine Hauswand und wartend darauf, dass er endlich beginnen kann mit seiner Arbeit, die an diesem Vormittag unter dem Titel steht: „Als die Berliner Mauer noch kein Denkmal war – Entlang des ehemaligen Todesstreifens an der Bernauer Straße.“

Die Verabredung tröpfelt aus der Tür. Zwei Handvoll unausgeschlafene junge Männer aus Leverkusen und Umgebung betreten den Gehweg, Elektronikerlehrlinge allesamt und auf mehrtägigem Berlin-Besuch. Ihre Ausbilder hatten sich gedacht, dass es nicht schaden könne, die Klassenfahrt mit etwas Geschichtsvermittlung zu versehen, wenigstens einen Kontrast zur ohnehin vorgesehenen Feierei wollten sie schon dabei haben. Wo man schon mal hier ist. Ist ja alles voll mit Geschichte hier. Sie buchten Juritzas Mauer-Führung.

Aber erst einmal: Gegenwart. Banalst-Berlin. Irgendeiner aus der Gruppe sagt: „Führer befiel, wir folgen“, keiner lacht, alle sind zu müde, und Juritza setzt sich in Bewegung. „Hier entlang, bitte“, sagt er, es geht hinüber zum S-Bahnhof Charlottenburg. Drei Lehrlinge brauchen noch Fahrkarten, acht Minuten dauert die Prozedur am Schalter. An der Station Tiergarten kommt eine Blaskapelle in den Waggon. „Oh, When the Saints“, an der Station Bellevue bricht das Lied ab, es geht weiter mit „Hit the Road, Jack“, der Trompeter geht mit der Mütze rum.

Man gibt besser, es kommt vor in dieser Stadt, dass Trompeter zahlungsunwilligen Fahrgästen mit ihrem Instrument die Zähne einschlagen. Am Hauptbahnhof steigt ein mit Substanzen gefüllter, etwas bedrohlich wirkender junger Mann zu, quatscht reihum auf alle Anwesenden ein, ob denn dieser Zug nach Marzahn fahre und bekommt keine Antwort. Auch von Juritza nicht, der den Lehrlingen gerade die einstige Sektorengrenze zu erklären versucht, die die Bahn in diesem Moment passiert.

Friedrichstraße, umsteigen, oben auf dem Bahnsteig bringt Juritza ein paar Beispiele für hier vollzogene Fluchtversuche, dann Treppe runter, Tiefbahnsteig, „Zurückbleiben bitte!“ Im Waggon wartet schon ein Mann mit Plastikbecher, der die Mitreisenden um Geld bittet. Er wird bemault und mault zurück.

Juritza erklärt unverdrossen die Berliner Teilungsgeschichte, umringt von seinen Leverkusener Gästen. Er ist ihr Anker, sie wollen nicht verloren gehen in der Stadt. In ihrer Gegenwart, genauer gesagt. Die Vergangenheit ist noch viel zu weit entfernt, die jungen Männer können kaum eine Verbindung zu ihr herstellen. Juritzas Worte prallen an ihnen ab. Es macht den Eindruck, als ob er unzugängliches Geheimwissen rezitiert. Er schaut seine Gäste an, die toten Augen von Leverkusen schauen zurück. Der Graben zwischen gestern und heute, zwischen dem Zeitzeugen und den Nachgeborenen, scheint unüberwindlich.

Die Müdigkeit, vielleicht. Der Restalkohol. Die Herkunft der jungen Männer. Ihr Alter wohl vor allem.

Einer davon immerhin ist jetzt schon leidlich assimiliert an die hier gegenwärtig gültigen Verhaltensnormen. Auge in Auge steht er vor dem redenden Juritza, führt Teigwaren an die Lippen, kaut, mit offenem Mund. Juritza senkt den Blick und schaut sich das an, zerkaute Teigwaren in einer Mundhöhle, dann Nordbahnhof, aussteigen, er sagt: „Wir gehen jetzt in den ehemaligen Todesstreifen hinein.“

Was wiegt die Berliner Geschichte noch?

Dass es ganz im Allgemeinen nicht gut bestellt ist um die Berliner Geschichte, um den Eindruck, den sie noch machen kann und damit um den Respekt vor ihr, hat sich in diesem Frühjahr so deutlich erwiesen wie lange nicht mehr. Der Sündenfall bestand darin, dass aus der Berliner Mauer ein paar Segmente herausgenommen worden waren. Verwaltungstechnisch vollkommen korrekt war das geschehen, mit der schwer abweisbaren Begründung, dass an dieser Stelle bald Wohnungen gebaut würden. Doch dann demonstrierten Tausende dagegen. Die Verwaltung sagte, sie würde ihre Entscheidung gern revidieren. Der Regierende Bürgermeister sagte, er würde sich kümmern. Die Weltpresse schrieb mit. David Hasselhoff sang.

Die herausgenommenen Segmente entstammten der East Side Gallery, von der die teilweise landeseigene Berliner Tourismusvermarktungsfirma sagt, dass es sich dabei um die „längste Open-Air-Galerie der Welt“ handelt, und „mit 1316 Metern gleichzeitig der längste zusammenhängende Mauerabschnitt, der noch steht“. Es ging um etwas Besonderes demzufolge.

Was also wiegt die Berliner Geschichte noch? Wiegt sie mehr als beispielsweise der Wohnungsbau, wie die Demonstrationen nahelegten? Oder weniger, was das Baurecht vermuten lässt? Und falls es am Ende doch nur um den größten gemeinsamen Nenner gehen sollte, um das Geld, haben dann Bauinvestitionen mehr Gewicht oder doch die von der Tourismuswerbung angelockten Besucher der Stadt? Was wiegt Erinnerung?

Die Diskussionen darüber verlaufen uneinheitlich. Jeder Mensch gewichtet anders. Der Stadtführer Juritza merkt das jeden Tag. Er selbst ist gewissermaßen einer von Berlins Maximal-Erinnerern. 1966 im Ost-Bezirk Friedrichshain geboren, von seiner Mutter mit dem Vornamen eines ihrer Lieblingsschauspieler versehen. In Hollywood arbeitete der und hieß Clive, was der Standesbeamte wiederum nicht gelten lassen wollte, also wurde irgendwie eingedeutscht. Groß geworden an dieser Mauer, als 13-Jähriger mit dem Wunsch nach einem Skateboardfahrer-Plakat in die US-amerikanische Botschaft gegangen, dann erster Kontakt mit den Staatsorganen der DDR. Dann Republikfluchtversuche. Einige DDR-Gefängnisse kennt er deshalb von innen. Freikauf in den Westen, kurz vor dem Mauerfall Rückkehr nach Berlin.

Heute erklärt er Besuchern auch das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Er ist Teil des „Gedächtnisses der Nation“, einem Archiv voller Geschichten von Zeitzeugen. Er hat ein Buch über sein Leben geschrieben, und er macht diese Stadtführungen.

An diesem Tag also hat er die Elektroniker-Lehrlinge aus Leverkusen. Leverkusen ist weit weg, einmal quer durchs ganze Land mussten die jungen Männer fahren, um herzukommen. Sie kennen die Mauer nur aus dem Fernsehen. Es blieb ihnen auch kaum etwas anderes übrig, denn sie sind alle um die 18 Jahre alt. Als sie geboren wurden, war das Allermeiste von ihr schon weg.

Und deshalb stehen sie nun hier an der Bernauer Straße, auf einem frischgrünen Rasen, der einmal ein Friedhof war. Sie sind mit einer Schulbildung versehen, wahlberechtigt und strafmündig, und sie hören tuschelnd Juritzas Geschichten zu. Hier Vorderlandmauer, dort Hinterlandmauer, dazwischen Patrouillenstreifen. Auf der Flucht Erschossene, Ertrunkene, Verblutete. Juritza zeigt ein Foto herum von einem DDR-Grenzsoldaten, zu dessen Aufgaben die Wartung der Selbstschussanlagen gehörte. Das Foto zeigt diesen Mann, nachdem er versehentlich eine dieser Anlagen ausgelöst hatte.

Es ist, wenn man so will, Juritzas letztes Mittel, um endlich die ungeteilte Aufmerksamkeit der jungen Leute zu bekommen. Es wirkt tatsächlich. Sie fangen an, Handyfotos zu machen und Fragen zu stellen.

„Wann wurde das denn bekannt gegeben, dass die Mauer abgerissen wird?“

„Wie lief Ihr eigener Freikauf ab?“

„Wenn das hier einmal ein Friedhof gewesen ist, liegen dann hier noch welche drunter?“

„Wann ist denn der Fernsehturm gebaut worden? Von der DDR?“

„Wie sah eigentlich Ihr Fluchtversuch aus?“

Juritza antwortet: „Ich habe strategische Fehler gemacht.“ Einer davon sei gewesen, mit der Eisenbahn an die ungarisch-österreichische Grenze zu fahren, ohne eine Rückfahrkarte dabei zu haben. Das habe ihn verdächtig gemacht, er sei deshalb aus dem Zug geholt worden. Später, zwischen Thüringen und Bayern, habe er die Weitläufigkeit der Grenzanlagen unterschätzt. Das sei es dann gewesen für ihn.

In solchen Momenten passiert Cliewe Juritza oft etwas, das er selbst merkwürdig findet. Da steht dann der Zeitzeuge vor den Nicht-Zeitzeugen und spürt, dass die eine Erwartung an ihn herantragen. Manche formulieren sie auch. Vor allem bei den Führungen durch das Hohenschönhausener Gefängnis passiert das. Die Menschen haben die Vorstellung, dass Juritza jedes Mal beim Erzählen seiner Geschichte tiefen Schmerz empfinden müsse.

Das ist aber nicht so. Vielleicht liegt es daran, dass er die Geschichte so oft erzählt. Vielleicht aber hat es auch damit etwas zu tun, dass darüber reden – rein psychologisch gesehen – besser ist als darüber zu schweigen.

Juritza weiß es nicht genau, er hat nur diese Vermutungen. Und die Frage, ob das nun auch ein Erinnerungs-Gewichtsverlust sei, ausgerechnet bei ihm, ist ihm zu theoretisch.

Manchmal erwischt ihn die Erinnerung. "Ich nenne das meine U-Boote."

Ganz praktisch war es ohnehin so: Er wollte lange nicht. Sein DDR-Leben war vorbei und irgendetwas zwischen uninteressant für ihn geworden und verdrängt. Bis Juritzas Frau, die seine Vergangenheit nur bruchstückhaft kannte, vor sieben, acht Jahren sagte: Schreib’ das doch alles mal auf. Juritza hört heute noch seine Antwort. „Nee, dann müsste ich mich ja erinnern.“

Er tat es dann doch, besorgte sich seine Akten, las Geschichtsbücher, lief durch die Stadt. Von überall tauchte plötzlich das Leben auf, das er einmal geführt hatte. Beim Vorbeilaufen am Jahn-Stadion in Prenzlauer Berg hörte er die Fangesänge seiner Kindheit. „Wo ist denn der Eigendorf?“, sangen die Fans hier jeden zweiten Samstag bei den Heimspielen, nachdem Lutz Eigendorf, ein Spieler des BFC Dynamo, nach einem Freundschaftsspiel im Westen geblieben war.

Juritza unterhielt sich mit einer Frau, die wie er im Gefängnis Berlin-Rummelsburg gesessen hatte. Am nächsten Tag konnte er sich daran erinnern, welches Buch er dort gelesen hatte. Er lief an einem Sonntagnachmittag irgendwo in Friedrichshain an herumliegenden Abflussrohren vorbei und wusste dann wieder, was für Militärübungen er während seiner Berufsausbildung machen musste.

„Ich nenne das meine U-Boote“, sagt Juritza. „Irgendwann taucht immer mal eins auf.“ Nur die Sache mit dem Gefängniszahnarzt tut dies nicht. Die kennt er bis heute nur vom Aktenlesen.

Sich erinnern macht Arbeit. Und diese Arbeit scheint Konjunkturzyklen zu folgen. Mal ist man dazu nicht in der Lage, dann wiederum umso mehr. Mal vergisst Juritza nach Kräften, dann baut er sein ganzes Berufsleben auf der Vergangenheit auf. Mal baut man in der Stadt Berlin eine millionenteure Gedenkstätte um einen Rest der Mauer, mal reißt man anderswo ein Stück von ihr ein.

Es geht gegen Mittag, die Elektronik-Lehrlinge werden wieder unaufmerksamer. Sie erkundigen sich nach den Wegen zum Kadewe und zu bekannten Currywurstbuden. Juritza zeigt noch den Verlauf eines Fluchttunnels und Kellerfundamente eines Wohnhauses, das einmal an der Bernauer Straße stand. Dann sagt er: „So, wir sind jetzt am Schluss der Führung. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Machen Sie heute noch etwas Heiteres.“ Das sagt er immer.

Dann läuft er weg, auf kleinen Schritten und rasend schnell. Es sieht aus wie eine Flucht.

Einen Grund dafür hätte er. Als Juritza vorhin über die späte Sprengung der Versöhnungskirche sprach – im Jahr 1985 geschah das, die Kirche stand auf dem Grenzgebiet –, da sagte irgendeiner aus der Gruppe zu irgendeinem anderen, „das war ja total unnötig. So wie bei Hitler, der hat ja auch total unnötige Sachen gemacht.“ – „Ja“, bekam er zur Antwort, „das hat der. Der hat auch viele Häuser abgerissen. Der hat aber auch einiges Positives bewirkt, der hat Autobahnen gebaut.“

Erinnerers Albtraum. Juritza hat das nicht mitbekommen, er stand zu weit weg. Zu weit, um zu erfahren, was der Arbeit von Menschen wie ihm blühen kann. Sie kann mit einem Satz erledigt werden. Sie kann jederzeit im Graben zwischen gestern und heute landen, im Nichts, im Reich der bequemen Legenden und Halbwahrheiten.

Möglicherweise wird in ein paar Jahren von der Mauer die Erkenntnis übrig bleiben, dass sie – wie die ganze DDR – vor allem eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Werktätigen in der Bauwirtschaft gewesen ist.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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