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Andächtig in der St.-Hedwigs-Kathedrale. Der Solidaritätskorso wird seit 1974 veranstaltet.

© dpa, Paul Zinken

Gedenkfahrt der Biker in Berlin: Nie den Schutzengel überholen

Mehr als 700 Biker gedenken der in Berlin und Brandenburg verunglückten Motorradfahrer – und zeigen sich auch von ihrer spirituellen Seite.

Punkt 12 Uhr, als endlich kein Regen mehr, sondern die Sonne vom Himmel flutet, bullert und röhrt es in Alt-Mariendorf so laut, dass die Sonntagsruhe vorbei ist. Von wegen Engelskonzert mit Harfen und Posaunen, um der Toten zu gedenken. Mehr als 700 Motorradfahrer starten zur „Mahn- und Gedenkfahrt“ der evangelischen Kirche für die seit Oktober 2016 in Berlin und Brandenburg tödlich verunglückten Biker.

Auch Jörg Ristau (54), Lagerist aus Reinickendorf, ist dabei, seine BMW 1150 RT-Maschine zwischen den Beinen: Zwei Zylinder, 95 PS, Spitzentempo 200 km/h. Beschleunigung? In 5 Sekunden von 0 auf 100. „Sechsmal wurde ich schon abgeschossen“, sagt Ristau, bevor sich die Kolonne in Bewegung setzt. Aber, toi, toi, toi. Ristau streckt den Daumen hoch. Jedes Mal hatte er „Glück im Unglück.“

Vom Bikervirus gepackt. Jörg Ristau.
Vom Bikervirus gepackt. Jörg Ristau.

© Christoph Stollowsky

Ein Autofahrer erwischte ihn beim Linksabbiegen, ein anderer beim Spurwechsel, ein Dritter rammte Ristau beim Ausparken. Einmal warf ihn auch eine glatte Ölspur hin. Will man denn nach solchen Crashs überhaupt noch weiterfahren? „Unbedingt“, sagt Ristau. Vor gut 30 Jahren sah er den Kult-Movie Easy Rider, da hat ihn „der Virus gepackt“. Ristau zieht den Helm über die Wollmütze. Die Zuversicht fährt mit – sein Leitspruch auch: „Fahr’ nie schneller, als dein Schutzengel fliegt!“

Das passt gut zu den Organisatoren der Mahn- und Gedenkfahrt, der Gruppe „Christ und Motorrad“. Seit 1974 veranstaltet sie diesen Solidaritätskorso gemeinsam mit der protestantischen Kirche in Berlin und Brandenburg. Bisher starteten die Biker am Olympiastadion, doch behördliche Auflagen haben sie dort vertrieben. Am Sonntag geht’s nun vor dem Polo-Motorradhaus an der Großbeerenstraße in Mariendorf los.

Ein Dröhnen eilt den schweren Maschinen voraus. Durch Tempelhof, Treptow und Friedrichshain rollt der Biker- Schwarm, protegiert von den Motorradstaffeln der Polizei und des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB).

Bikerhelme als symbolisches Kreuz - am Altar der St.-Hedwigs-Kirche.
Bikerhelme als symbolisches Kreuz - am Altar der St.-Hedwigs-Kirche.

© dpa/Paul Zinken

Ab 14 Uhr heißt es dann: Zündschlüssel raus, Helm ab zum Gebet in der St. Hedwigs-Kathedrale in Mitte. Ein ökumenischer Gottesdienst, „Patchwork-Andacht“, flachsen die Biker, vereint Hunderte in Lederkluft. Motorradhelme bilden ein Kreuz vor dem Altar. Berlins „Motorrad-Pfarrer“ Bernd Schade (62), selbst überzeugter Yamaha-Fahrer, hält die Predigt. Er ist der offiziell Beauftragte der Protestanten für die Arbeit mit Kradfahrern. Vor der Kirche sieht es unterdessen aus wie auf der Biker-Messe.

Es geht um mehr Rücksicht und Achtsamkeit: Olli Kalkow von der Gruppe "Christ und Motorrad". Er hat die Gedenk- und Mahnfahrt mit organisiert.
Es geht um mehr Rücksicht und Achtsamkeit: Olli Kalkow von der Gruppe "Christ und Motorrad". Er hat die Gedenk- und Mahnfahrt mit organisiert.

© Christoph Stollowsky

Die traurige Bilanz seit Oktober 2016 hält Olli Kalkow (47) von der Gruppe „Christ und Motorrad“ in der Hand. Sieben Kradfahrer starben seit der letzten Gedenktour im Oktober 2016 in Berlin, 23 in Brandenburg. Zumeist verursachten die Biker selbst den tödlichen Crash, „beispielsweise durch unangepasste Geschwindigkeit, Vorfahrt- oder Abbiegefehler“, sagt Kalkow. Autofahrer waren dagegen nur für zwei der Berliner und für fünf der Brandenburger Unglücke verantwortlich. Deshalb solle der Korso nicht nur die anderen Verkehrsteilnehmer zu mehr Rücksicht, Achtsamkeit und respektvollem Miteinander ermahnen, „sondern auch uns Biker selbst“, betont Kalkow.

Klar, so ein Kraftgeschoss unterm Hintern, das fast so schnell beschleunigt wie ein Stein im freien Fall, kann Allmachtsphantasien auslösen, zu hohe Risikobereitschaft, aber es schenkt auch ein „göttliches Gefühl von Freiheit“, wie viele schwärmen. Also, wie bekommt man beides als sicherer Fahrer gut zusammen?

"Sicherheits-Fahrtraining ist unerlässlich": Samantha Goranson.
"Sicherheits-Fahrtraining ist unerlässlich": Samantha Goranson.

© Christoph Stollowsky

Samantha Goranson, brünettes langes Haar, lebhafte Augen, macht sich diesen Konflikt täglich auf ihrer KTM RC390 „Supersport“-Maschine bewusst. Viermal hat die 20-jährige Managerin eines Security-Dienstes bereits Sicherheits-Fahrtrainings absolviert, hat gelernt, on the road angepasst zu bremsen, in die Kurve zu gehen. Als Frau hat sie ja noch ein zusätzliches Problem: Junge Typen in Autos, die sie im Vorbeifahren zu Rennen provozieren wollen. Samantha lacht. Die lässt sie kalt abblitzen.

Überzeugter Yamaha-Fahrer: Berlins Motorrad-Pfarrer Bernd Schade.
Überzeugter Yamaha-Fahrer: Berlins Motorrad-Pfarrer Bernd Schade.

© Christoph Stollowsky

Aber die Biker-Gemeinde hat auch ein paar Forderungen zur eigenen Sicherheit. Baugruben auf Fahrbahnen sollten nicht provisorisch mit Stahl- sondern mit Betonplatten bedeckt werden. Stahl ist gefährlich glatt. Und dann die Leitplanken. Die müssten komplett beplankt sein. „Rutscht man drunter durch, wirken sie wie Gurkenhobel“, sagt Olli von den christlichen Bikern.

Frage: Kommt der Glaube für ihn oder Pastor Schade erst so richtig auf dem Motorrad in Fahrt? Ist es ihr Missionsvehikel? Schließlich besuchen die meisten hier vermutlich nur zu Weihnachten und zur Gedenkfahrt eine Andacht. „Na ja“, sagt Pastor Schade, die große Zahl der Teilnehmer zeige doch zumindest eines: „Viele haben ein spirituelles Bedürfnis.“

Lesen Sie hier, wie viele Biker verunglücken und welche Unfallursachen besonders häufig sind.

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