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Im Karmel Regina Martyrum Kloster treffen Religion und Kriegserinnerungen aufeinander.

© Ralf Pauli

Gedenkkirche Plötzensee: Widerstand im Schweigekloster

Mitten in Berlin ein Ort der Stille: das Kloster Karmel Regina Martyrum. Unsere Reporterin wollte sich mit dem Schweigen konfrontieren. Was als geistliches Erlebnis geplant war, verzweigt sich zu einer politischen Erfahrung.

Ich laufe die Stadtautobahn entlang, nicht weit vom Flughafen Tegel. Hier muss das katholische Schweigekloster sein. Mein Klischee von so einem Ort sieht anders aus: weitläufige Berglandschaften, Ruhe und frische Luft. Dieses Schweigekloster liegt mitten in Berlin. Nur eine Gehminute von der Autobahn entfernt ist der Ort, an dem ich einen Tag und eine Nacht die Stille kennenlernen möchte. Entschlossen schalte ich mein Smartphone aus. Darauf habe ich mich am meisten gefreut: Keine Schlagzeilen von Folter und Giftgas in Syrien können zu mir durchdringen, keine Debatte Journalist versus Geheimdienst.

Es ist kurz vor sieben Uhr und immer noch dunkel. Das erste Stundengebet des Tages, die Laudes, beginnt gleich. An Mülltonnen vorbei gelange ich auf einen weitläufigen Platz, der leicht abwärts auf ein riesiges Bauwerk zuführt. Meine Augen suchen die Umrisse des Quaders ab. An den drei Meter hohen Betonmauern entlang stehen elektrische Strahler. Ich bin beleuchtet, die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum ist es nicht. Wie ein überdimensionierter Wachposten drückt der Beton-Glockenturm im Rücken. Ich muss an den Appellplatz eines Konzentrationslagers denken. Im Schlaglicht wird mir klar: Das ist Absicht. Mir fällt der Bezug des Klosters zur Gedenkstätte Plötzensee wieder ein. Diesen Zusammenhang muss ich bei meiner Vorbereitung auf das Schweigen völlig ausgeblendet haben.

Auf der Website der Karmelitinnen gab es die Infos: Das Kloster wurde von Dachau aus gegründet, wo Schwestern direkt neben dem ehemaligen KZ leben, durch ihre Präsenz und ihre Gebete den Ort prägen. Seit 1984 beten Karmelitinnen auch in Berlin. Tagein, tagaus stehen sie an den Gräbern und Gedenktafeln der Menschen, die sich nicht gemein gemacht haben mit dem NS-Regime. Die im Kampf für Glaubens- und Gewissensfreiheit ermordet wurden. Ganz in der Nähe des Hinrichtungsschuppen Plötzensee, in dem Nazis Verurteilte an Fleischerhaken erhängt hatten – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Gedenken wird so zum immerwährenden Widerstand.

Wo, wenn nicht hier, sollte Akzeptanz eine Grundregel sein?

Das Sirren der Beleuchtung, die Künstlichkeit des Raums mit den schwarzen Seitenmauern, klaustrophobisch abgeschlossen gegen die Natur: In dieser Krypta vermischen sie sich mit Kirchenhall und Kerzenschein zu einer völlig neuen Atmosphäre. Jede Bewegung, jeder Atmer wird übergroß im Schall. Falls jemand hinter der goldenen Mauer sitzt, die den Gedenkraum vom Altarraum scheidet, hat er mein Kommen schon längst bemerkt.

Eine junge Nonne in dunkelbrauner Ordenstracht erhebt sich aus einer der vorderen Sitzreihen neben dem Altar aus ihrer Versenkung und kommt mit einem neugierigen Lächeln auf mich zu, erklärt mir rasch den Ablauf des Stundengebets. Ich bin von meinen KZ-Assoziationen noch wie gelähmt; es fällt mir schwer zu sprechen. Durch ihre warme Offenheit fällt die Anspannung etwas von mir ab. Von mir, die bis jetzt noch nicht mal einen normalen katholischen Gottesdienst besucht hat. Die mittlerweile nicht einmal mehr zu Weihnachten in die Kirche geht. Und die sich dafür entschieden hat, heute an den Knien aufgerissene Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli zu tragen, Wohlfühl-Klamotten, die nicht so recht zu diesem Ort passen und gleichzeitig genau so zu diesem Ort passen müssen. Wo, wenn nicht hier, sollte Akzeptanz eine Grundregel sein?

Nach und nach füllen sich die ersten Reihen rechts und links vom Altar. Neun Schwestern kommen durch den Hintereingang vom Kloster her. Vier Gläubige setzen sich wie ich frontal zum Altar. Das Stundengebet beginnt: Eine Schwester singt vor, die anderen antworten gemeinsam in einem Wechselspiel aus Klang und Versen. Die Tonarten wirken alt und fremd, fast wie aus einer anderen Kultur. Immer wieder verbeugen sich Schwestern und Gläubige an bestimmten Stellen, erheben sich, bekreuzigen sich, setzen sich wieder, wechseln zwischen Gesangbuch und Antiphonale, in dem die liturgischen Wechselgesänge aufgezeichnet sind, auf eine mir geheime Weise. Das hier ist meine Kultur. Ein verwunderlicher Gedanke.

Schlagzeiten finden ihren Weg auch ins Schweigekloster

Freie Fürbitte. Schwestern, aber auch Gläubige aus den anderen Sitzreihen kommen zu Wort. Für die Schwachen und Kranken, für die Menschen in Syrien, für Flüchtlinge, insbesondere Frauen und Kinder, für die Politiker, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen mögen. „Lass auch uns nicht vergessen, dass wir eine Stimme haben“, ergänzt keine zwei Sekunden später eine resolute Dame die Worte der Schwestern. Spätestens jetzt wird mir klar: Vor Schlagzeilen fliehen kann ich hier nicht. Im Gegenteil.

Als ich aus der Kirche heraustrete und auf dem Weg zum Gästehaus meinen Blick über den Kirchenvorplatz auf das Bauwerk zurückschweifen lasse, hat der Ort seinen Grusel verwandelt. Im Sonnenschein strahlt das feierliche Weiß des Marmorkiesels, eine goldene Plastik glänzt an der Gedenkkirche wie eine Brosche in den Tag. Eine Schwester zeigt mir mein Zimmer, drückt mir eine Karte mit dem Tagesablauf der Gäste in die Hand. Drei Stundengebete und die Essenszeiten wechseln sich ab, wie im Tagesablauf der Karmelitinnen auch. „Den Rest der Zeit können sie füllen, wie sie möchten. Zum Beispiel mit Stille.“ Dann verschwindet sie hinter einer ovalen Tür aus dunklem Holz in Richtung Kloster, einem Ort, dessen Zugang den Gästen verwehrt ist.

Mahnend wirkt der Glockenturm auf dem Hof.
Mahnend wirkt der Glockenturm auf dem Hof.

© Ralf Pauli

Ein Rat klingt mir noch im Ohr nach: Ich solle mich beim Essen mit Gesprächigkeit zurückhalten. Doch der Essensraum ist nicht still. Mit Freundlichkeit und Vehemenz fallen sich zwei Damen immer wieder ins Wort: Die eine ist ebenfalls Ordensfrau und möchte sich in Berlin mit der NS-Geschichte und Erinnerungskultur beschäftigen, da sie selbst seit ein paar Monaten im Kloster bei einem ehemaligen Konzentrationslager wirkt. Die andere, die resolute Dame aus dem Stundengebet, setzt sich mit Opfern und Tätern ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander und möchte heute zur Topographie des Terrors. Die Themen sind: Was unterscheidet einen Jesuiten von einem Benediktiner oder wie weit ist die Gedenkstätte Ravensbrück von Berlin entfernt. Ich versuche, meine Stille durch freundliche Einsilbigkeit aufrecht zu erhalten. Doch dann kann ich nicht anders:

Als die Schwester feststellt, Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg müssten für meine Generation etwas sein, was für sie Geschichten aus dem Mittelalter sind – etwas, das beruhigend weit zurück liegt und damit abgeschlossen ist – werde ich gesprächig. Zu viele meiner Freunde setzen sich heute peu à peu mit den Kriegstraumata ihrer Großeltern und der daraus folgenden Prägung ihrer Eltern auseinander. Welche Anstrengung, nach Generationen die Zusammenhänge für Familienängste nachzuvollziehen, um sie zu mildern. Die Ordensfrau denkt meine Gedanken laut weiter: „Nach siebzig Jahren! Heute gibt es so viel Krieg auf der Welt. Die daraus resultierenden Schäden werden dann wieder an mehrere Generationen vererbt!“ Es ist nicht schön, die eigenen pessimistischen Grübeleien aus dem Mund einer Nonne zu hören. Mein Widerstandsgeist regt sich: Wir sind nicht nur Opfer. Leben ist kein Zustand, alles ist variabel und im Fluss.

Die Auseinandersetzung mit der Stille

Mein Zimmer hat etwas Konzentriertes. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Bücherbord mit einer Auswahl religiöser und geschichtlicher Titel wie „Der geistliche Gesang“ von Johannes vom Kreuz, die Einheitsübersetzung der Bibel oder „Nicht wie die Schafe zur Schlachtbank – Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ vom ehemaligen Insassen Hermann Langbein. Der Blick aus dem Fenster führt zwischen Betonstäben hindurch über den Dachgarten hinweg vom Gästehaus zum eigentlichen Kloster. Ein betonverliebter Sechziger-Jahre-Bau, wie alles andere hier. Hätte eigentlich mal ein Kindergarten werden sollen. Mein Blick bohrt sich zwanzig Meter durch das gegenüberliegende Fenster. Was machen die Nonnen jetzt, zu diesen Zeiten zwischen allem? Schweigen sie? Lesen sie in der Bibel? Spielen sie ein Computerspiel? Organisieren sie sich? Nichts ist zu erkennen. Ich beschließe, mir den Meditationsraum und die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Stille noch etwas aufzusparen.

Ich sitze im Eingangsbereich des Gästehauses und lese „Gedenkkirche Maria Regina Martyrum Berlin – zu Ehren der Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit“. Ein Beitrag geht um die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis, die Zusammenarbeit und Freundschaft des evangelischen Helmuth James Graf von Moltke und des Jesuitenpaters Alfred Delp, die beide in Plötzensee ermordet wurden. Ihre geistliche Freundschaft in der Gefangenschaft führte zu einer ökumenischen Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Gedenkkirchen.

Ein Obdachloser klingelt und bekommt von einer Schwester etwas Essen, das übriggeblieben ist.

Ich kann dieses Buch nicht ertragen, das ganz und gar von Männern wimmelt, männliche Widerständler, männliche Autoren, Männer, die über ihre Begegnung mit Männern schreiben. Da stolpere ich über eine Stelle, die mich berührt. Ein Mann zitiert Alfred Delp: „Der Mensch entscheidet sich in der Geschichte und tut etwas, ohne Angst, weil mit Gottvertrauen, oder die Geschichte macht mit ihm, was sie will.“ Sich nicht zum Opfer machen. Ein schöner Vorsatz. Dieses Gottvertrauen kann ich mit Alfred Delp nicht teilen. Doch eine innere Ruhe, ein Vertrauen in die Handlung, in die Entscheidung, in das Leben als Zeichen. Die zu erlangen, kann ich mir zumindest vorstellen. Eine Bekannte der Schwestern kommt vorbei, mustert das Buch, nickt zustimmend: „Alles was da drin steht, ist die Wahrheit.“

Schweigen lässt sich nicht in zwei Stunden erfassen

Es ist 12 Uhr, Zeit für das nächste Stundengebet, die Sext. Diesmal betet eine Besuchergruppe mit, direkt nach der Kirchenführung durch eine Ordensschwester. Zum Friedensgebet stehen alle im Halbkreis um die Pietà und singen „Verleih uns Frieden“ von Martin Luther. Das Mittagessen nehme ich schweigend ein – die beiden Damen machen Ausflüge zu anderen Gedenkstätten.

Jetzt wäre der Moment also gekommen. Ich und die Stille. Eigentlich sollte ich jetzt in den Meditationsraum gehen. Das habe ich mir zumindest so vorgenommen. Ich streune durch das Gästehaus, schaue mir noch mal alle Räume an, die Teeküche, den Leseraum, mein Zimmer, der Blick aus dem Fenster neben dem Meditationsraum: Die Müllabfuhr fährt vorbei. Jetzt ist der Moment gekommen. Ich und die Stille. Na gut.

Die Stille des Meditationsraums erleichtert den Weg ins Schweigen.
Die Stille des Meditationsraums erleichtert den Weg ins Schweigen.

© Ralf Pauli

An sieben Drehschaltern dimme ich mir das Licht so, wie es mir zusagt. Der Raum ist sehr schlicht. Eine Kerze, ein ewiges Licht, ein Tabernakel, an der Wand ein Kruzifix. Ich wickle mich in eine braun-beige Decke, setze mich auf eine Holzbank zum Niederknien mit Blick Richtung Kreuz. In mir ist es nicht still. In meinem Kopf führe ich Selbstgespräche, mit mir, meinen Freunden und Verwandten. Erinnerungen ziehen vorbei, Planungsfragen aus dem Alltag, langsam verschwimmt der Tabernakel immer mehr, wechselt wie beim Dia in sein Negativ, ich schlafe ein. Als ich wieder aufwache, ist eine halbe Stunde vergangen. Ich bekomme Angst. Wie wird das sein, ich und die Stille, wenn ich heute Nacht nicht einschlafen kann? Nach einer Weile beruhige ich mich wieder, lasse wichtige Szenen aus den letzten Wochen vor meinem inneren Auge zu. Eine Szene treibt die Gefühle so stark in den Magen, als würde sie jetzt geschehen: eine Mischung aus Wut, Angst, Ohnmacht und Verzweiflung. Sich nicht zum Spielball der Gegenwart machen zu lassen, heißt, sich nicht als solcher zu verstehen. Das wird mir langsam klar. Ich möchte zu meinen Gedanken stehen, in all ihrer Subjektivität und Veränderlichkeit, ohne Angst vor den Konsequenzen, im inneren Einklang mit meinem Tun. Zweieinhalb Stunden allein mit mir selbst. Was Schweigen bedeutet, kann ich noch nicht erfassen. Aber Zeit zum Sortieren hatte ich.

Keine Stille beim Abendessen

Es ist 18 Uhr, Zeit für das Stundengebet, die Vesper. Ich kenne die Abläufe etwas besser, merke jetzt auch die Ehrerbietung der Gäste den Schwestern gegenüber, die diesen Ort mit ihrer Anwesenheit und ihren Gebeten prägen. Wir stehen und warten, bis sie sich durch den Hinterausgang in ihr Kloster zurückgezogen haben. Das Abendessen hat mit Stille nicht das Geringste zu tun. Die resolute Dame berichtet von ihren Eindrücken an den Gedenkorten, die Ordensschwester schwärmt von einem Jesuiten, der im Nebenraum bei den regelmäßigen Treffen der „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ mitmacht und Mahnwachen vor Abschiebegefängnissen plant.

Die Nacht ist nicht so dunkel, wie ich befürchtet hatte. Ich lese in meinem Bett in dem einzig weltlichen Buch aus dem Bücherbord: Über die Möglichkeit des Widerstands im KZ, Feindschaft und Solidarität zwischen den Insassen. Dann schließe ich den Vorhang. Die Blicke der Nonnen sollen mich jetzt alleine lassen. Die Nacht bringt keine Bilder von Gaskammern und Leichenbergen.

Der Blick auf den Widerstand

Die Laudes. Der Wechsel zwischen Gesangbuch, Antiphonale und Psalmen ist mir immer noch ein Rätsel. Nur selten mischt sich meine Stimme in den Chor der Schwestern. Nach dem Frühstück nimmt sich Schwester Mechthild Zeit, mit mir in einem kleinen Raum ein Abschlussgespräch zu führen. So ein Gespräch bekommt jeder, der sich das am Ende seines Aufenthalts im Kloster wünscht. Schwester Mechthild ist kaum älter als ich, ihre offene und lebhafte Art zu sprechen, ihre immense Selbstgewissheit berühren mich. Als ich von meinem Entsetzen erzähle, wie ausschließlich männlich doch der Blick in den Büchern auf den Widerstand sei, erstaunt sie das keineswegs. Wir reden über die Arbeit der Nonnen, ihr Engagement im Ökumenischen Gedenkzentrum, ihren Austausch mit den Angehörigen der Ermordeten oder mit Jugendgruppen. Dann kommen wir auf ihr Verständnis von Widerstand zu sprechen. „Der eine führt ein Doppelleben und rettet viele Menschen, der andere verweigert den Fahneneid und bezahlt das mit seinem Leben. Wichtig ist, sich bewusst mit der Problematik auseinanderzusetzen und sich die Entscheidung nicht leicht zu machen.“

Auf dem Weg zur U7 lasse ich meine Eindrücke Revue passieren. Der Ausflug ins Kloster war keine Flucht. Er war eine Konfrontation. Ich muss an das einzige Zitat einer Frau denken, das in dem Buch über diesen Ort erwähnt wurde. Hannah Arendt sagt: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus für heute ergibt.“

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Journalistenschule Berlin. Weitere Beiträge zum Thema "So glaubt Berlin" finden Sie auf soglaubtberlin.de.

Ortrun Schütz

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