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Gefängnistheater "aufBruch": Zwischen Rampenlicht und Gitterstäben

Auf dem ehemaligen Flughafengelände in Tempelhof führen Ex-Häftlinge, Freigänger und professionelle Schauspieler das Stück „Simplicissimus“ auf. Den ehemaligen Kriminellen hilft das Theaterspielen bei dem Schritt in ein neues Leben.

Ein Auge des Kalbskopfes soll Simplicissimus gestohlen haben. Den Küchenjungen des Armeeregiments könnte das teuer zu stehen kommen. Der General im ledernen Mantel lächelt gefährlich, breitet die Arme aus und schließt den Jungen übertrieben freundlich hinein. „Noch mal kommst du mir nicht davon“, zischt er ihm ins Ohr.

Der junge Simplicissimus heißt eigentlich Fayez. Wenn er nicht auf der Bühne steht und probt, sitzt er in der Jugendstrafanstalt ein. Schon mit elf Jahren galt er als Intensivtäter, drei Jahre später wurde er erstmals inhaftiert. Im Ensemble des Theaterstücks „Simplicissimus“ ist der heute 18-Jährige nicht der einzige mit krimineller Vergangenheit: Ein Drittel der 28 Mitwirkenden saß mal im Gefängnis oder tut es noch – allerdings als Freigänger.

Das freie Projekt „aufBruch“ inszeniert Theaterstücke mit Häftlingen. Finanziert wird das unter anderem vom Hauptstadtkulturfonds. Meist finden die Aufführungen innerhalb der Gefängnismauern statt. Das Stück „Simplicissimus“ allerdings hat am Mittwoch in der alten Feuerwache des ehemaligen Flughafens Tempelhof Premiere. Wenn sie „draußen“ spielen, muss der Freigang der Inhaftierten bis in die Nacht ausgedehnt werden.

Dass in der Produktion professionelle Schauspieler gemeinsam mit Laien proben, birgt nach Meinung von Regisseur Peter Atanassow großes Potenzial. „Die Laien bringen viel Spontanität und Unverbogenheit mit“, sagt er. „Da schaut ein Profi nicht ohne einen gewissen Neid drauf.“ Ihre Vergangenheit nutze den Laien oft, um ihre Rollen auszufüllen. Schließlich beschäftigt sich das Stück in großen Teilen mit Gewalt und Tod: „Simplicissimus“ spielt während des Dreißigjährigen Krieges und erzählt den Lebensweg eines Mannes, der jung von Soldaten verschleppt wird, es später zum Offizier bringt und mehrmals die Seiten wechselt.

„Simplicissimus ist ein Opfer, bevor er später selbst zum Täter wird“, sagt Fayez. Vor seinem Probenauftritt sitzt der 18-Jährige auf dem Fensterbrett im Umkleideraum, trägt ein blaues T-Shirt und eine silberne Halskette. Was er angestellt hat, will er nicht verraten. „Falsche Freunde, Mist gebaut“, sagt Fayez einsilbig. Insgesamt zwei Jahre hat er mit Unterbrechung abgesessen. Anfang dieses Jahres begann er in der Jugendstrafanstalt mit dem Theaterspielen. „Besser, als in der Zelle herumzusitzen, war das allemal“, sagt er. Zuvor habe er an manchen Tagen 23 Stunden in dem kleinen Raum verbracht. „Es hat gut getan, beim Theaterspielen Applaus zu bekommen. Da konnte ich endlich mal zeigen, dass ich mehr drauf hab’, als kriminell zu sein.“

Beim Theaterspielen die Wut rauslassen

Für den 24-jährigen Gino Arlmani, der im März dieses Jahres aus der JVA Charlottenburg entlassen wurde, ist das Theaterspielen eine Freizeitbeschäftigung, die verhindert, dass er auf dumme Gedanken kommt. Braungebrannt, mit schwarzem Basecap sitzt er lässig zurückgelehnt auf einem Plastikstuhl. „Während der acht Stunden, die ich täglich bei den Proben für 'Simplicissimus' in meine Rolle schlüpfe, bin ich vom Alltag abgelenkt. Auch meine Wut kann ich beim Theaterspielen rauslassen.“ Arlmani war wegen Diebstählen, Einbrüchen und Betrug im Jahr 2006 ins Gefängnis gekommen und später wegen einer Schlägerei erneut inhaftiert worden. Heute hat er mit den kriminellen Bekannten aus seiner Vergangenheit nichts mehr zu tun und geht in seiner Freizeit ins Theater. „Das hätte ich früher nie gemacht“, sagt er und grinst.

Wenig später lehnt Arlmani am Rand der Bühne und beobachtet Fayez, dessen Auftritt sich dem Höhepunkt nähert. Aus einem Flachmann flößt der Pfarrer des Armeeregiments dem Jungen hochprozentigen Alkohol ein. „Trink das, trink“, sagt er eindringlich. Der Küchengehilfe verzieht das Gesicht, hustet. Hastig schiebt ihn der Geistliche zu einem Verschlag und flüstert: „Glaub nicht alles, was du siehst, wenn sie dich gleich quälen.“ Dann stößt er Simplicissimus hinein und stemmt sich gegen die Tür. Zu hören sind nur noch die Hilfeschreie des Jungen.

Nach der Probe schlüpft Fayez wieder in sein blaues T-Shirt. Spätestens um 23.59 Uhr muss er wieder in der Jugendstrafanstalt sein. „Wenn ich mich verspäte, wird ein Haftbefehl ausgestellt“, sagt Fayez müde. Doch am Tag vor der Premiere soll er entlassen werden - vorzeitig. Was dann kommt, weiß er nicht genau. Die Mittlere Reife will er nachholen, vielleicht Sozialpädagoge werden, um anderen Jugendlichen zu helfen. Und auf jeden Fall weiter Theater spielen.

Bis zum 16. November immer Mittwoch bis Sonntag, 20 Uhr, alte Feuerwache des Flughafens Tempelhof, Eingang über Tempelhofer Damm, Höhe Paradestraße. Mehr Infos finden Sie hier.

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