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Berlin: Gegen den Geschichtsverlust

65 Jahre Pogromnacht, 14 Jahre Mauerfall: Für viele Besucher der Gedenkfeiern ist der 9. November mehr als Historie

Ein wenig verloren steht das Grüppchen im Herbstlaub am Fraenkelufer. Ein gutes Dutzend Bezirksverordneter und Vertreter der Jüdischen Gemeinde ist am Sonntagmittag zum Gedenkstein vor der Kreuzberger Synagoge gekommen, um daran zu erinnern, was hier vor 65 Jahren geschah. „Hier marschierten SA-Leute und ihre Unterstützer auf und setzten die Synagoge in Brand“, beschreibt Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer die Pogromnacht. „Das Innere wurde so weit zerstört, dass Gottesdienste danach unmöglich waren.“ Einst lebten 14 000 Juden in Kreuzberg und Friedrichshain, sagt die PDS-Politikerin. Nach 1945 noch 610.

So wie in Kreuzberg erinnerten gestern zahlreiche Veranstaltungen an den 9. November 1938, darunter auch die im Jüdischen Gemeindehaus. Zu den rund 500 Teilnehmern gehörten Bundesaußenminister Joschka Fischer und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit. In Reden wurde ein noch entschiedeneres Vorgehen gegen jede Form von Antisemitismus gefordert. Der Fall des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann bedeute „eine neue Qualität“, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Alexander Brenner. Die Gemeinde erwarte Hohmanns Ausschluss aus dem Bundestag. Viele Veranstaltungen waren dem anderen historischen Jahrestag gewidmet, der Maueröffnung vor 14 Jahren. An der Gedenkstätte Bernauer Straße legten Kultursenator Thomas Flierl (PDS) für den Senat sowie Vertreter der Bundesländer und Parteien Kränze nieder.

„Ich freue mich, dass man einfach so von West nach Ost gehen kann“, sagt Paul-Gerhard Echternkamp, Pfarrer im Ruhestand, der mit seinem Kirchenchor aus Bielefeld zu Besuch ist. Viele Berliner nutzen diesen Tag für einen Besuch des Dokumentationszentrums. „Als die Mauer fiel, war ich 18 und fand den Bau ganz normal“, sagt der Journalist Dirk Bernard. „Erst in der Ausstellung habe ich gesehen, wie die Mauer gebaut wurde, und war überrascht, wie schief und provisorisch sie zu Anfang aussah.“ Das Ehepaar Schulte aus Gießen findet es „erschreckend“, dass es kaum mehr Spuren der Mauer in Berlin gibt: „Es ist viel zu wenig im Bewusstsein, was für ein besonderer Tag der 9. November war.“ Ähnliche Befürchtungen haben die Teilnehmer der Kreuzberger Gedenkveranstaltung an die NS-Zeit. „Manche sind geneigt, im Gedenken nur noch ein Ritual zu sehen“, sagt Michael Joachim vom Vorstand der Synagoge. Dabei zeige der Streit um antisemitische Abgeordnetenworte, „dass Politiker in Deutschland die Geschichte relativieren wollen.“

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