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Berlin: Georg Radke Geb. 1931: Er liebte es zu reisen, und über jede seiner neunzig Fahrten hat er Buch geführt. Auf den letzten Seiten wird seine Schrift immer zittriger - erste Spuren einer schleichenden Krankheit

3.8.

3.8. 1951 Abfahrt 18.45 Uhr, Stuttgarter Platz über Avus, Autobahn, Marienborn ..." Georg Radke machte seine erste Reise nach Freudenstadt in den Schwarzwald. 89 weitere sollten folgen. In vier dicken grauen Aktenordnern hat Georg Radke sie fein säuberlich aufgelistet. Vergilbte, aber akkurat aufgefaltete Broschüren der Orte, Stadtpläne, Landkarten, Prospekte, Wegbeschreibungen und Notizen ergänzen die akribische Auflistung. Unterkünfte wurden ebenso aufgezählt wie Kirchen-, Theater-, und Konzertbesuche. Eine Inventarliste von 1 bis 90 hat er vorangestellt, geschrieben in kleinen, gestochen scharfen Buchstaben - zunächst. Kurz vor der letzten Eintragung werden die Zahlen und Buchstaben immer zittriger, schließlich unleserlich. Erste Spuren einer schleichenden Krankheit.

Schier unerschöpflich war Georg Radkes Interesse an fremden Ländern, Landschaften, Menschen und Erlebnissen. Seine Neugierde machte ihn zu einem weltoffenen Mann. Neue Eindrücke sammelte er nach Art der Abenteurer und Forscher des 19. Jahrhunderts. Vor seinen kleinen und größeren Reisen, die ihn quer durch Deutschland und Europa führten, wälzte Georg Radke unzählige Bücher. Er studierte fremde Sprachen, um im Ausland wenigstens Höflichkeiten austauschen zu können. Seine Reisen führten nach Frankreich, Italien, nach Skandinavien, Osteuropa genauso wie nach Israel und Ägypten. Von jeder hat er sich Aufzeichnungen gemacht. Die Notizen sind für niemand Fremdes bestimmt. Sie sind Erinnerungsstützen für Georg Radke selbst gewesen. Sehr gerne, erinnert sich seine Frau, "wäre er nach Mexiko gereist. Aber dafür reichte das Geld nie". Ein Großteil seines Gehalts investierte der Oberregierungsrat in diese Reisen.

Stolz und fröhlich

Auf den ersten Blick war Georg Radke ein konservativer Mensch, der sich beruflich nur mit der Vergangenheit beschäftigte. Radke war viele Jahre Leiter des Amts für Lastenausgleich in Charlottenburg. Er entsprach in vielem dem Klischee des Beamten, war fleißig, korrekt, diszipliniert. Doch privat war der Oberregierungsrat überraschend unkonventionell. Zum Beispiel als Vater: Anfang der 60er Jahre, als die meisten Männer und Frauen noch in zwei völlig verschiedenen Welten zu leben schienen, stand er bereits am Wickeltisch, kochte Brei für seine beiden Kinder, schob sie, ohne sich zu genieren, stolz und fröhlich durch die Straßen rund um das Charlottenburger Schloss. "Er war ein wundervoller Vater", sagt seine Frau und fügt hinzu, "und ein wundervoller Ehemann".

Eine besondere Nähe bestand auch dann noch zwischen den Eheleuten, als die Umstände schwieriger wurden. 15 Jahre lang war Georg Radke krank. Gerade er, der seine Erlebnisse so systematisch festgehalten hat, vergaß immer mehr. Ein Schlaganfall, Alzheimer und schließlich Parkinson machten ihn zu einem schweren Pflegefall. Seine Frau, eine gelernte Krankenschwester, hatte die Kraft, ihn zu pflegen. Er hatte die Kraft, sich pflegen zu lassen. "Ich hatte eine sehr schöne Zeit mit ihm", sagt seine Frau.

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