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Berlin: Gepflegte Armut

Wer kein Vermögen hat und nur wenig Rente bezieht, wird im Pflegefall vom Staat abhängig. Manchem Heimbewohner bleibt im Monat nur noch ein Taschengeld von 90 Euro

Es fehlt ihr an nichts, in der Pro Seniore Residenz am Märchenbrunnen in Friedrichshain. Nachmittags bringt die Schwester ein Stück Kuchen mit Schlagsahne. Auch sonst sei das Essen „wunderbar“. Es gibt Turnstunden, Gedächtnistraining, Gesprächskreise, Modenschauen und Ausflüge. Einmal im Monat schaut der Hausarzt vorbei. „Rundumversorgung“ heißt das im Pflegefachjargon. Und doch sagt Dorothea Bieler, 70 Jahre, gehbehindert: „Ich habe 40 Jahre lang gearbeitet und drei Kinder groß gezogen. Für was bin ich so bestraft worden?“

Das Angewiesensein auf Hilfe hat sich wie ein schwarzer Schleier auf ihre Seele gelegt. Frau Bieler fühlt sich arm und ohnmächtig, auch wenn sie alles hat, was sie so braucht. Die Rente – rund 600 Euro – deckt weniger als ein Drittel der Pflege- und Betreuungskosten. Den Rest zahlt das Sozialamt. Für Frau Bieler bleibt ein monatliches Taschengeld von etwas mehr als 90 Euro im Monat. Davon gehen Zuzahlungen für Medikamente ab, Friseur, Pediküre und Hygieneartikel. Dann ist das Geld fast schon alle.

Die Betreuung älterer und kranker Menschen verschlingt riesige Summen. Die Pflegekassen bezahlen davon nur einen Anteil, der meistens unter 50 Prozent liegt – eine Teilkaskoversicherung, die das Armutsrisiko bestenfalls lindert.

Wer kein Vermögen hat und nur eine kleine Rente bezieht, wird im Pflegefall abhängig vom Staat. Aber auch das eigene Häuschen plus Lebensversicherung schützt langfristig nicht vor dem Sozialamt. Nach einigen Jahren Intensivpflege im Heim sind Rücklagen aufgezehrt. Für die Betroffenen ein Schock, möglicherweise auch für die Angehörigen. Einem Ehegatten bleibt nur noch der Sozialhilfesatz von 347 Euro plus „Schonvermögen“ von 2600 Euro fürs eigene Leben.

In der Residenz am Märchenbrunnen sind 60 Prozent der 190 Bewohner auf Sozialleistungen angewiesen. Das liege an den oft niedrigeren Renten im Ostteil und den geringeren Ersparnissen, erklärt Heimleiterin Renate Woick. In Berlin brauchen etwa 20 Prozent der Pflegebedürftigen unterstützende Leistungen vom Staat, das waren 2006 mehr als 23 000 Menschen. Der Senat gab 285 Millionen Euro für ihre Pflege aus. „Gerade bei älteren Frauen steigt die Gefahr, auf die Unterstützung des Sozialamts angewiesen zu sein“, sagt Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke). In der Regel hätten Frauen kleinere Renten.

Renate Woick empfiehlt Angehörigen, den Pflegebedürftigen gar nicht zu sagen, dass sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nach Jahren der Selbstständigkeit könnten sich viele Menschen nicht leicht damit arrangieren, plötzlich abhängig zu sein. Manchmal stellt sich die Frage gar nicht. Viele Bewohner der Residenz am Märchenbrunnen leiden unter Demenz und wissen gar nicht, wie es um ihre Finanzen steht. Die Verhandlungen mit dem Sozialamt übernehmen Angehörige oder Sozialarbeiter im Pflegeheim. Bis das erste Geld fließt, könne es schon mal ein halbes Jahr dauern, sagt Woick. Dann geht das Heim in Vorleistung.

In der Praxis werde zwischen Selbstzahlern und Leistungsempfängern kein Unterschied gemacht. Das gesamte Freizeitprogramm bei Pro Seniore ist in den Tagessätzen eingerechnet. Mal was Besonderes zum Anziehen oder Restaurantbesuche können sich aber nur die leisten, die noch eigene Geldreserven haben. Auch der Wechsel in ein Einbettzimmer – das kostet einen Zuschlag – oder betreutes Wohnen käme für Frau Bieler nicht in Frage. „Das zahlt das Sozialamt nicht.“

Gleichgestellt sind „arme“ und vermögende Pflegebedürftige bei der Wahl des Pflegeheims. Das Sozialamt zahlt auch teurere Häuser. „Es gibt ein uneingeschränktes Wahlrecht“, heißt es in der zuständigen Senatsverwaltung, allerdings nur innerhalb Berlins. In der Regel möchten die älteren Menschen in ihrem Wohnumfeld bleiben. Gibt es, wie in Charlottenburg-Wilmersdorf, besonders viele teure Heime, steigen eben auch im Sozialamt die Kosten für den Bereich „Hilfe zur Pflege“.

Das Gesetz zur Pflegeversicherung wird derzeit reformiert. Die Bedarfssätze sollen steigen und der Kostenentwicklung angepasst werden. Dennoch werden die tatsächlichen Pflegekosten weiterhin wesentlich höher liegen.

Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. Das ist billiger, aber für viele Betroffenen immer noch zu teuer. Das Sozialamt von Friedrichshain-Kreuzberg hat im Jahr 2006 acht Millionen Euro für die Heimpflege ausgegeben, mit 18 Millionen Euro aber mehr als doppelt so viel für die ambulante Pflege. Auch hier zahlen die Pflegekassen oft nur ein Drittel der tatsächlichen Kosten.

Dennoch hat die ambulante Pflege einen wichtigen psychologischen Vorteil. Die eigene Rente wird erst ab einem Betrag von knapp 700 Euro zur Finanzierung der Pflegekosten herangezogen. Die Mietkosten werden zum Freibetrag addiert. Liegt die Rente immer noch über diesem Betrag, wird die Differenz nur zu 80 Prozent angerechnet. So bleibt das erniedrigende Gefühl, der Fürsorge zur Last zu fallen, auch denen erspart, die tatsächlich Fürsorge brauchen.

Die Zusammenarbeit mit dem Sozialamt wird von vielen Pflegediensten als gut bezeichnet. Mit Angehörigen, die selbst pflegen und dafür Geld von den Pflegekassen erhalten, gibt es schon eher Reibereien. „Die vom Sozialamt betreuten sind am besten versorgt. Das können private Haushalte oft gar nicht bezahlen“, sagt die Chefin einer Kreuzberger Sozialstation, die ihren Namen nicht nennen möchte. Die Sozialämter schicken selbst Gutachter zu Hausbesuchen, um den Pflegebedarf zu ermitteln. In Neukölln kooperiere das Sozialamt eng mit den Pflegediensten, sagt Elisabeth Kronseder von der Koordinierungsstelle „Rund ums Alter“. Zu Konflikten komme es selten.

Für viele Berliner Senioren wird das Problem der horrenden Pflegekosten gar nicht erst akut – sie sind ohnehin arm, beziehen Sozialhilfe, die mit Einführung der Hartz-Gesetze in „Grundsicherung“ umgetauft wurde. Ende 2006 bekamen 52 000 Berliner, die älter als 65 Jahre waren, diese Grundsicherung, Das waren 27 Prozent mehr als 2005.

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