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Der Willy-Brandt-Flughafen eröffnet erst im Frühjahr 2013.

© dapd

Geplatzte Flughafen-Eröffnung: Das wäre ihr Tag gewesen. . .

. . . wenn der Flughafen Berlin-Brandenburg heute eröffnet hätte. Denn so war es geplant. Eine Geschichte im Konjunktiv II.

Vor dem unscheinbaren Haus in der Babelsberger Turmstraße würden zwei schwarze Mercedes-Limousinen vorfahren, im Schritttempo über das Kopfsteinpflaster, um die Nachbarschaft nicht zu wecken. Um drei Uhr käme Matthias Platzeck aus dem Tor geeilt, würde sich im Gehen noch die Krawatte richten. Auf den Kaffee hätte Brandenburgs Regierungschef verzichtet, das würde er im Terminal nachholen, nach der offiziellen Einweihungszeremonie für den Flughafen, die gegen vier Uhr begönne.

Für den 59-Jährigen wäre die Nacht arg kurz gewesen, zwei Stunden nur hätte er Zeit gehabt, um Schlaf zu finden. Erst kurz vor Mitternacht hätte der Ministerpräsident vom nun stillgelegten alten Teil des Flughafens die letzte Maschine verabschiedet: Aeroflot-Flug 2617 nach Moskau, gestartet am 2. Juni 2012 um 23 Uhr 40. Russische Offizielle wären dagewesen, man hätte angestoßen, über Fügungen und Schicksal philosophiert und vielleicht auch ein wenig über das Chaos.

Aber dazu wird es nun nicht kommen. Vor 27 Tagen stellte sich heraus, dass der Flughafen „Willy Brandt“ nicht rechtzeitig fertig werden würde. Auch Platzeck zeigte sich überrascht. Sein Tagesablauf war minutiös festgelegt für den Tag der offiziellen Eröffnung, die Platzeck nun absagen musste. Der Umzug des Flughafenbetriebs hätte in einer Nacht bewerkstelligt werden sollen. Und vielleicht wäre das sogar nach Plan verlaufen.

Dann wären es noch 49 Minuten bis Sonnenaufgang für Pia Werner und 60 bis zu ihrem Dienstbeginn, und sie hätte die Tür zu ihrer gerade erst bezogenen Wohnung in Oberschöneweide hinter sich verriegelt, zwei Zimmer, 42 Quadratmeter, Erstbezug, Balkon, alles nach ihrem Geschmack eingerichtet und mithilfe ihrer Eltern und Großeltern frisch gemalert. Aber das nähme Pia Werner in dem Moment gar nicht richtig wahr. Sie liefe zum S-Bahnhof, spränge in den Zug, der die 21-Jährige zum Flughafen brächte. Wichtig für sie wäre nicht die Airport-Eröffnung, sondern dass ihr „Traumjob“, so nennt sie ihn, nun endlich losginge.

In Schwedt, ihrer Heimatstadt an der polnischen Grenze, hatte sie keinen solchen Job gefunden. Da hat sie eine Ausbildung als Chemielaborantin gemacht, bei PCK, der großen Erdölraffinerie. Das Geld habe gestimmt, erzählt sie, aber die Schichtarbeit habe sie einfach nicht durchgehalten. Die Nachtarbeit, der ständige Wechsel – das habe sie krank gemacht.

"In wenigen Minuten landen wir am Willy-Brandt-Flughafen in Berlin" - Ein Flugsimulator macht's möglich:

Deshalb war sie glücklich, als ihr im November 2011 auf einer der großen Jobbörsen für den künftigen Großflughafen eine Stelle als Verkäuferin für Reiseelektronik angeboten wurde. Sie war also die vergangenen Monate in Frankfurt am Main, wo sie auf ihren neuen Beruf vorbereitet wurde. Für 300 Euro Miete hat sie in einem möblierten Zimmer in einem Vorort gelebt. Es war in Ordnung, denn sie merkte, wie ihr die Arbeit gefiel. Vor vier Wochen verließ sie den Vorort Richtung Berlin – in großer Vorfreude auf diesen 3. Juni.

Ob auch Politiker Vorfreude kennen? Hätten Klaus Wowereit und Matthias Platzeck in diesem Fall nicht enttäuschter sein müssen, als sie verkündeten, dass es keinen 3. Juni geben würde, nicht diesen 3. Juni jedenfalls, der in ihren Kalendern als wichtiger Tag vermerkt war?

Der RBB sendet live - 24 Stunden lang.

Um fünf Uhr wäre die Sonne schon über den Horizont gekrochen und hätte ihr bleiches Licht durch die weiten Flughafenfenster ergossen. Vor einem der Gates stünden bei Matthias Platzeck noch andere Herren in Anzügen, vereint in großer Müdigkeit und im Angesicht dessen, was hier in ihrem Namen entstand. Die Herren, es wären Rainer Schwarz, Chef der Flughafengesellschaft, Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister, Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und noch ein paar andere wie Manfred Körtgen, der Chefplaner, der, wenn es anders gelaufen wäre, noch Chefplaner hätte sein können. Aber man hat ihn gefeuert. Es würden Grußworte gesprochen, dann der letzte symbolische Akt: Ein Band würde zerschnitten. Dazu gäbe es ein leichtes Büfett, der außergewöhnlichen Uhrzeit angemessen. Schwarz hätte die Nacht durchgemacht und am Sonntag früh und dann nochmals am Abend der versammelten Weltpresse erklärt, was für ein toller Flughafen in Schönefeld gebaut worden sei.

20 Minuten später höbe die erste Maschine ab. Ein Airbus A330-200 im BER- Design mit der Airberlin-Flugnummer AB3333. Die Maschine würde nirgendwo hinfliegen, sondern einen Kreis über Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern in der Luft beschreiben, um sechs Uhr 30 wären die Passagiere wieder zurück.

Daneben, auf der anderen Startbahn, wäre parallel dazu Ingo Meyerdierks in die Luft gegangen. Der Lufthansa-Pilot hätte den Riesen-Airbus A 380, den der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit vor Kurzem auf den Namen „Berlin“ getauft hatte, voll besetzt nach Frankfurt am Main gesteuert – als Linienflug.

Zur Premiere sollte das größte Flugzeug der Lufthansa abheben. Danach wäre Alltag gewesen. Das übliche Rauf-und-Runter kleinerer Maschinen. Am Abend vorher hätte Meyerdierks die „Berlin“ leer nach Schönefeld geflogen. Jetzt ist sie in Frankfurt geblieben und hebt heute Abend planmäßig mit Ziel Johannesburg ab. Denn es gibt solche und solche Pläne.

Der, an den Bruno Pellegrini sich halten wollte, sah vor, dass er um ein Uhr nachts schon mit den Vorbereitungen für den großen Tag begonnen hätte, damit um fünf Uhr alles frisch und fertig wäre. Der 53-jährige Gastronom wollte für alle Gäste ein Gläschen Franciacorta ausgegeben, einen Spumante aus der Weinbauregion in der Provinz Brescia. Dazu hätten – ebenfalls gratis – seine 16 neu eingestellten Mitarbeiter Häppchen mit Lachs, Kaviar und Schinken gereicht. Über dem Restaurant hätte das Schild mit der Aufschrift „Pellegrini, Gusto Italiano“ geleuchtet, und Pellegrini, der seit vielen Jahren das Restaurant „Ana e Bruno“ in Charlottenburg betreibt, ist sich sicher, dass alle Möbel und Einrichtungsgegenstände pünktlich geliefert worden wären.

Kunstausstellung im neuen Terminal:

Vor dem Travellershop „Globetrotter“ in Berlin-Steglitz stiege Hans-Jörg Schulze in den ersten Bus auf der neuen Route seines Busunternehmens Haru-Reisen aus Spandau, deren geschäftsführender Gesellschafter er ist. Es spräche sich dann langsam herum, was da auf dem Schild an der Haltestelle verkündet würde: Dass es in Berlin von nun an eine neue Schnellbuslinie gäbe, die einzige zum Flughafen übrigens. Drei Fahrzeuge im Wert von 800 000 Euro hat Haru sich dafür angeschafft. Alle 30 Minuten führe eines los. Wenn Schulz sich das heute ausmalt, hätte er in Schönefeld angekommen bestimmt ein Erinnerungsfoto von der Erstlingsfahrt gemacht: Fahrer, Passagiere, neuer Bus am BER.

Sascha Hingst hätte um acht Uhr sein Mikrofon angeknipst und wäre live auf Sendung gewesen. Die Maske hätte zuvor etwas mehr Mühe als gewöhnlich mit ihm gehabt, denn er hätte seine kurze Nacht im Auto verbracht. Der RBB wollte ein Mammutprojekt initiieren: eine 24- stündige Livesendung zur BER-Eröffnung – mit sechs großen Übertragungswagen und 40 Kameras. Unterbrochen nur von „Abendschau“, „Brandenburg Aktuell“, „RBB aktuell“ und „Tagesschau“. Für die insgesamt zwölf Moderatoren in Tegel, Schönefeld und am neuen Flughafen wären rund 100 Gäste eingeladen gewesen, und 30 RBB-Livereporter hätten aus den Ladezonen, von der Berliner Stadtautobahn, aus der Verkehrsleitzentrale und dem Tower berichtet oder Flughafen-Anwohner besucht.

Die ersten sechs Stunden hätte Hingst also am Vortag bereits live in Tegel gestanden. Er wäre dann nach Mitternacht ins Auto gesprungen Richtung BER. In Anbetracht der gesperrten A 100 wäre allein das ein Abenteuer geworden.

Die Unternehmer machen am neuen Standort gute Umsätze.

Eine Rolltreppe hoch, eine andere Treppe wieder runter, durch die Sicherheitskontrollen, wieder zwei Treppen hoch und noch ein Stück durch die Ladenstraße: Da wäre das Spielzeuggeschäft „Die kleine Gesellschaft“. Darin hätten fünf Verkäuferinnen über den langen Tag von halb fünf Uhr in der Früh bis 23 Uhr am Abend Dienst geschoben, und Ladenbesitzerin Beatrice Posch hätte den ersten Umsatz am neuen Standort gemacht. Mehrmals hätte sie sich an diesem ersten Arbeitstag über die liebevoll eingerichteten 60 Quadratmeter gefreut. Hätte überprüft, ob ihre hauseigene Serie mit Fernsehturm-Rassel und Berlin-Lätzchen gut präsentiert wäre und gehofft, dass die Reisenden reichlich zugreifen würden, bei den Mitnahmespielen, Mal- und anderen Büchern ebenso wie bei den CDs und Plüschtieren.

Auf seiner Terrasse in Diedersdorf säße Ferdi Breidbach, der bekannteste Flughafengegner, und ärgerte sich. Weil nun angefangen hätte, wogegen er seit 15 Jahren kämpfte.

Die Gegend werde sich verändern, wäre er bereit zu wiederholen, mit ausholender Geste, während neben ihm der Dackel dösen würde und die ersten von insgesamt 600 Maschinen an diesem Tag über ihn hinwegdonnerten. Der erste Tag wäre gleich einer der Hauptreisetage. Seine beschauliche Straße mit den schmucken Häusern auf beiden Seiten läge nun direkt in der Einflugschneise. In rund 250 bis 350 Metern Höhe flögen die Jets jetzt über sie hinaus. Ferdi Breidbach hörte den Lärm und ärgerte sich.

Und vielleicht dächte er noch mal an die Jahre im Widerstand: an die Prozesse, die Gutachten, die Anwälte, die Millionen Euro, die sein Bürgerverein im Kampf gegen den Flughafenbau ausgab. An den ganzen riesigen „Volksbetrug“, der der Bau des Flughafens für ihn immer bleiben wird. Er würde sich auch heute wieder in Rage reden, das geht bei ihm schnell. Er fühlt sich auch persönlich betrogen. Schließlich ist er erst Mitte der 90er Jahre aus München nach Diedersdorf gezogen und hat sein Haus gebaut. Vom damaligen Staatssekretär des Brandenburger Ministerpräsidenten habe er sich vorher persönlich „in die Hand“ versprechen lassen, dass dort im Süden Berlins niemals ein Großflughafen gebaut werde. Und dann – kaum war er dorthin gezogen – fiel die Entscheidung für Schönefeld.

Die Bauarbeiten und das ganze Debakel um den neuen Flughafen - eine Bildergeschichte:

Etliche Häuser in der kleinen Straße sind schon nicht mehr zu vermieten; dazu sind jetzt vermehrt „Zu verkaufen“-Schilder zu sehen. Sein eigenes Haus hat er noch verkaufen können, jetzt wohnt er zur Miete auf der gegenüberliegenden Straßenseite – und dächte heute vielleicht auch wieder an andere schöne Gegenden, die es in Deutschland noch so gibt.

Auch Airberlin-Chef Hartmut Mehdorn wollte in die Luft gehen an diesem Tag der schlaflosen Nacht. Aber Schlafen muss der bald 70-Jährige nicht viel. Beim Abschiedsflug von Tegel, Start gegen 22 Uhr 45 wollte er an Bord der Airberlin-Maschine sein. Nach einem einstündigen Rundflug sollte er in Schönefeld und in einer neuen Ära seiner Firma landen. Um 4 Uhr hätte es dann die kleine Eröffnungsfeier gegeben. Selbstverständlich wäre Mehdorn beim ersten Start von Airberlin zum Rundflug um fünf Uhr 30 dabei gewesen. Und danach wollte er noch Fragen von Journalisten beantworten.

Um 17 Uhr 50 würden aus dem Airberlin-Flug Ab8485 zwei Ehepaare aussteigen, die sich drei Tage lang Sankt Petersburg angeguckt haben. Und vielleicht werden sie tatsächlich all das gesehen haben, was Elisabeth Reiter, eine der Frauen, auf dem Hinflug im schnell noch gekauften Reiseführer angekreuzt hat. Was schon feststand als Programmpunkt war die nächtliche Bootsfahrt auf der Newa, wenn die Brücken öffnen, und auf beiden Uferseiten gefeiert wird.

Die Reise ist eine doppelte Premiere. Erstens waren sie zuvor noch nie dort. Und dann soll damit eine Tradition wiederbelebt werden. Die Reiters und ihre Freunde sind früher gemeinsam verreist, als die Kinder noch klein waren: die Söhne des einen Paares und die Töchter des anderen. Deren Eintritt ins Pubertätsalter setzte der Tradition dann ein abruptes Ende.

Jetzt sind alle Kinder groß, da haben die Eltern sich gedacht: Nehmen wir unsere Tradition wieder auf – ohne Kinder! Dass also ihr Flug am Flughafen Tegel starten und am neuen BER enden sollte, passte dazu ziemlich gut. Beabsichtigt war es nicht.

Doch alles kommt anders.

Bis zum Nachmittag, so hat es in seinem Terminkalender gestanden, wäre Platzeck auf jeden Fall am neuen Flughafen geblieben. Irgendwann hätte er auch in den etwas abseits gelegenen Aufenthaltsräumen im Terminal vorbeigeschaut, wo sich hunderte junger Leute die Zeit vertrieben. Es sind die extra eingestellten Brandwächter und Türöffner, falls im Notfall die Automatiksysteme versagten. Ohne das Zusatzpersonal hätte die Bauaufsicht den Terminal nicht freigegeben.

Wenn Platzeck wüsste, dass fast alles schiefgegangen wäre, wie knapp das alles war, würde er gedacht haben, was für Hasardeure diese Flughafenmanager doch waren. Anmerken ließe er sich nichts. Falls ihn mitten in der allgemeinen Euphorie ein Journalist fragen würde, wie er es als Regierungschef Brandenburgs zulassen konnte, dass der „modernste Flughafen Europas“ ohne Lärmschutz für zehntausende Brandenburger in Betrieb geht, wäre er ernst: „Ja, das ist jetzt das größte Problem. Es muss schnellstens gelöst werden.“ Aber dann hätte Matthias Platzeck seinen Standardsatz wiederholt, der stets alles entschuldigt: „Das Leben spielt sich immer in Relationen ab.“

So hätte der Eröffnungstag in Schönefeld laufen können, der Blick ins Konjunktivische ist jedoch eine Fiktion. Denn es ist anders gekommen, und keiner der Helden dieser Geschichte wird diesen Tag wie vorgesehen verbringen.

Matthias Platzeck wird einen terminfreien Tag haben.

Pia Werner hat in Frankfurt verlängern können, aber nur um zwei Wochen. Dann muss sie die Zeit bis März 2013, dem neuen Eröffnungstermin, überbrücken.

Sascha Hingst wird mit der Freundin ins Grüne fahren, und der RBB sendet das Regelprogramm.

Ingo Meyerdierks hat frei. Und am Montag übernimmt er bei Airbus in Hamburg den zehnten A 380 der Lufthansa, der „Brüssel“ heißen wird.

Bruno Pellegrini, der auf Entschädigung für die entstandenen Kosten hofft, wird ausschlafen und dann das Beste aus diesem Tag machen: mit seinen Kindern.

Auch Beatrice Posch hat Kinder, mit denen geht sie ins Kino.

Elisabeth Reiter und ihre Reisegruppe landen in Tegel.

Hartmut Mehdorn hat ausgeschlafen.

Ferdi Breidbach sitzt auf der Terrasse und ärgert sich nicht. Noch nicht.

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