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Berlin: Gerd Schneider (Geb. 1930)

Mit Fremdsprachen hat er es genauso wenig wie mit Hochdeutsch

In Kreuzberg ist Gerd aufgewachsen, hat eine Familie gegründet, gewohnt und gearbeitet. Um ihn herum veränderte sich alles, neue Menschen kamen, alte gingen, er blieb da. Einer jener konservativen Ur-Kreuzberger, die mit dem Rest der Welt wenig zu schaffen haben, ihre eigenen unspektakulären Bahnen ziehen, scheinbar unberührt von den Zeitläuften.

Sein Vater hatte es mit der 1928 gegründeten „Akzidenzdruckerei Otto Schneider“ zu Wohlstand gebracht: Auto, Laube und ein Boot am Müggelsee. Das Familienunternehmen für Gelegenheitsdrucksachen, Geschäftspapiere, Familienanzeigen, Visitenkarten befindet sich unweit des Exportviertels rund um den Moritzplatz und floriert auch in Kriegs- und Nachkriegszeit. Wie durch ein Wunder überstehen Elternhaus und Betrieb selbst die Zerstörung des Quartiers in den letzten Kriegsmonaten.

1944 ist Gerd als Lehrling eingestiegen. Als Schriftsetzer erlangt er den Meisterbrief. Neben den Bleilettern und Schrifttypen gibt es auch andere Leidenschaften: den Fußball und die Swing-Musik, die die Nazis für „entartet“ hielten. Sein Leben lang wird er diese Musik lieben, seine Plattensammlung ist eindrucksvoll, viele Jahre läuft Swing als Hintergrundmusik in seiner Druckerei. Er macht nicht immer die besten Drucksachen, aber die beste Musik hört man bei ihm.

Schon als Jugendlicher spielt er Fußball bei Eintracht Südring, in Kreuzberg selbstverständlich. Später wird er Kassenwart, jahrzehntelang. Eine leichte Aufgabe für ihn, denn rechnen muss er bald auch im Betrieb. Mitte der Sechziger sterben innerhalb eines Jahres Vater und Bruder. Gerd übernimmt den Familienbetrieb, stellt seine Frau Ursula, eine gelernte Modezeichnerin, als Kontoristin ein und manövriert das Unternehmen durch unsichere Zeiten. Auch die zwei Söhne packen an, wenn es eng wird.

Und es wird eng, das Offsetverfahren verdrängt den Hochdruck, er muss investieren. Aber auch in den schwierigen Siebzigern fährt die Familie jedes Jahr an die Adria. Die Bahnfahrt plant Gerd mit internationalen Kursbüchern, einen Führerschein hat er nie gemacht. Ob das daran liegt, dass er rechts und links verwechselt, oder vielleicht daran, dass seine überschaubare Kreuzberger Lebenswelt zu Fuß abzulaufen ist, bleibt offen.

Wichtig am Urlaubsziel ist das Bekannte, Vertraute. Die Pensionswirtin spricht Deutsch. Mit Fremdsprachen hat es Gerd genauso wenig wie mit Hochdeutsch. Ob er seine Bildung und Einstellung aus der Springer-Presse, dem Großen Brockhaus oder aus Lebenserfahrung gewinnt, bleibt strittig. Vielleicht von allem etwas. Politisch ist er streitlustig, der Kalte Krieg hat ihn geprägt. Aber wählen geht er nicht: „Dazu sind mir die Schuhsohlen zu schade!“ Das bunte Volk in Kreuzberg ist ihm fremd, vor allem die Künstler und Studenten. Instandbesetzungen alter Abrisshäuser akzeptiert er nicht, er wohnt gerne mit seiner Familie in einer Neubauwohnung unweit der Druckerei, 52 Jahre verbringt er hier.

Sosehr er sich für die technischen Neuerungen auch interessiert, für seinen Kleinbetrieb rechnet sich vieles nicht. Einen kleinen Aufschwung bringt der Mauerfall, denn im Osten haben sie noch ältere Maschinen als er. Aber das ist nur ein Strohfeuer, der Digitaldruck erobert den Markt. Gerds Söhne gehen andere berufliche Wege, es geht langsam dem Ende zu. Seine Hüfte schmerzt, die Operation verschiebt er bis zur Rente. Ärzten misstraut er, Krankheiten werden ignoriert.

1995 ist es so weit, er wird Rentner. Aber die Druckerei kann er nicht loslassen. Das Kreuzberg-Museum bindet ihn ein, kleine Aufträge und Führungen. Am grünen Tisch in seiner Werkstatt führt er den Druckerstammtisch und die geselligen Skatrunden fort, im Hintergrund läuft Swing. Aber nichts ist, wie es war. Die wenigsten Gäste haben noch Arbeit, ihr Fachwissen ist aus der Zeit gefallen. Computer haben die Setzer und Drucker verdrängt. 2000 dann die Aufgabe der Räumlichkeiten, das Museum übernimmt das Inventar. Die geselligen Runden finden nun hier statt, mit ihm als Mittelpunkt. Er blüht noch mal auf, die Leute vom Museum aus oft ganz anderen Lebenswelten und Ländern schätzen Gerds Humor und Gelassenheit. Fast alle hier stecken in Beschäftigungsmaßnahmen, ohne Perspektive. So etwas kennt Gerd gar nicht.

Als seine Frau krank wird, pflegt er sie zu Hause bis zu ihrem Tod. Und stößt an seine Grenzen. Nach einer Weihnachtsfeier im Museum stürzt er unglücklich und kommt nicht wieder auf die Beine. Monate vergehen, aber sein Lebenswille scheint erloschen. Im Spätsommer schenken seine Söhne dem Museum die Druckerei, die nach ihm benannt wird. Das hat er nicht mehr erlebt. Erik Steffen

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