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Berlin: Gerda Marie Kostic (Geb. 1926)

Als sie das Meer sah, steckte sie sich eine Marlboro an

Von ihrem Sessel aus betrachtete Gerda Kostic ihr Königreich. Darin fand jedes Ding seinen festgefügten Platz. Die Kindl-Bierflasche, die Zigaretten (Marlboro 100), die Familienfotos, der Teddy, der Plastepiepmatz, die Zuckerdose, der Altar mit Schokoladen-Osterhasen und -Weihnachtsmännern, die Decken, der Fernseher mit Pro7-Serienberieselung. Keine Blumen. Auf keinen Fall Blumen! Allenfalls auf der blauen Kittelschürze, die sie immer trug. Und wenn alles so war wie immer, unverrückt, konnte Gerda unbeschwert einnicken.

An ihrem Geburtstag, dem 70., hatten die Nachbarn Gerda ihren Sessel treppab in den Hof getragen. Darin versank sie, nippte am Glas, strafte etwaige Gratulanten mit einem scharfen Verweis, „Lasst mich doch in Frieden“, stapelte die Geschenke unbesehen und – nickte ein. Irgendwann geriet der schwere Sessel aus dem Gleichgewicht und kippte mitsamt Gerda nach hinten. Kein Mucks. Sekunden verstrichen. Oder waren es Minuten? Endlich bemerkte jemand das Malheur. Gerda wurde wieder aufgerichtet und feierte klaglos weiter.

Sie war der Hausengel in der „Lause 39“ in Kreuzberg 36. Dabei dachten viele, die Gerda noch nicht richtig kannten, sie sei der Hausdrachen. Die Kinder im Hof fauchte sie an, still zu sein und beschenkte sie anschließend mit Eis. Gerdas Ruppigkeit tarnte nur ihre Hilfsbereitschaft. Sie verwaltete Wohnungsschlüssel, nahm Päckchen an, wusste, ob die Putzfrau gekommen war, schaute aus dem Fenster auf die Straße, die Fahrräder und Autos der Nachbarn immer im Blick.

Am Fenster rauchte Gerda ihre Marlboros, kommentierte die Wetterlage, erkundigte sich nach der Familie, tratschte und lästerte. Sie durfte das. Sie durfte auch nachts klingeln, um nach einem Bierchen zu fragen. Sie habe ja lange keines mehr gehabt.

Viele Jahre hindurch kümmerte sich Gerda um einen Sittich, der Nelson hieß. Die vielen Marlboros machten Nelson krank. Nach anderthalb Jahren lag er tot im Käfig. Dann bekam Gerda einen neuen Sittich geschenkt. Der hieß wieder Nelson und starb nach anderthalb Jahren.

Vielleicht lag es auch an der Kälte.

Gerda heizte nicht gerne, obwohl die Kohlen griffbereit lagen, hinten in der Küche. „Ich heize abends, dann ist es morgens schön warm, wenn ich aufstehe.“ In ihrer Kohlenofenwohnung lebte sie schon seit Anfang der Sechziger. Eine Dusche gab es nicht. Gerda wusch sich mit kaltem Wasser und Seife im Porzellanbecken.

Wenn sie von früher erzählte, dann ging es meistens um die Selbstmorde im Hinterhaus. Oder den Krieg, als es nichts zu essen gab und ihr die Zähne ausfielen, bis keiner mehr übrig war. Was es gab, waren die Zigarettenkippen, die Gerda aufhob und zusammenfriemelte zu einem Glimmstängel, der den Hunger vernebelte. Weil auch ihre Mutter Selbstmord begangen hatte und ihr Vater nichts mit ihr anzufangen wusste, war sie ins Heim gekommen und dort viele Jahre geblieben.

Nach dem Krieg wurde sie ins Leben entlassen, aber dort traf sie niemanden, der es mit ihr teilen wollte. Sie lernte einen Mann kennen, wurde schwanger, da war er schon wieder verschwunden. Ein anderer Mann, dem das Kellerloch gehörte, in dem sie hauste, warf sie zusammen mit ihrem Kind auf die Straße.

Gerda fand Arbeit in der Avus-Gaststätte, später in einer Wäscherei. Ihr Kind kam ins Heim, so wie sie früher. Gerda suchte Trost im Alkohol.

Ihre erste Ehe wurde nach einem Dreivierteljahr annulliert, wegen „Nicht-Vollzugs“. Die zweite Ehe verhalf dem Gatten, Herrn Kostic, zu einem Aufenthaltstitel. Er trug einen langen Bart, deshalb wollte Gerda ihn nicht küssen. Musste sie auch nicht. Das Geld für die Heirat bekam sie auch so, aber es war nicht so viel wie besprochen. Ab jetzt hieß sie Frau Kostic. Hätte zu viel gekostet, wieder den alten Namen anzunehmen.

Nachdem sie ihre Arbeit in der Wäscherei verloren hatte, lebte sie von Sozialhilfe. Das Geld vom Amt nahm sie mit in ihre Stammkneipe, und weil die anderen Stammgäste immer wussten, wenn Gerda welches hatte, waren alle schon da, um sie willkommen zu heißen. Ein paar Stunden später war die Party vorbei, und alle gingen nach Hause. Gerda erzählte dann, jemand hätte ihre Geldbörse gestohlen. Gerda konnte austeilen und einstecken. Miri, ihr Nachbarskind, durfte sie auch rausschmeißen, immer wieder, stundenlang, bei Mensch ärgere dich nicht. Für Miri spielte sie Mundharmonika oder stupste mit ihrer Zunge die eigene Nasenspitze. Sie war dann Oma Gerda, eine lustige Oma vom alten Schlag, mit Wollsocken, weißen Haaren, knittrigem Gesicht und Berliner Schnauze.

Als Oma Gerda bekam sie Familienanschluss, wurde unter Kuratel gestellt, erhielt regelmäßig Taschengeld und die dringende Ermahnung, statt Wodka nur noch Bier zu trinken. Sie nahm es sich zu Herzen. Ihre Wohnung wurde renoviert. Gerda durfte sich die Tapete aussuchen: Efeumuster. Sie reiste an die Ostsee, zum ersten Mal im Leben. Als sie das Meer sah, steckte sie sich eine Marlboro an.

Eines Tages lag sie da, vornübergekippt. Ein Herzinfarkt. Zur Beerdigung kamen Nachbarn und Bekannte aus dem Seniorentreff. Weil es ihr Lieblingslied war, spielten sie die Caprifischer. Auf Capri war Gerda nie gewesen. Thomas Loy

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