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Berlin: Gerda Pretzer (Geb. 1920)

Ihrem Antrag wurde stattgegeben, sie durfte bei den Briten arbeiten

Möglicherweise ist es für einen Atheisten müheloser: Ohne Gott gibt es auch keine Zweifel an ihm. Zweifel, angesichts des Unglücks, das er zulässt.

Gott schien so weit entfernt, als kurz nach Gerdas Geburt die Mutter schwer erkrankte und später die jüngste Schwester, um die sich Gerda zu kümmern hatte. Als vor ihr im Lazarett, wo sie während des Krieges aushalf, dieser 17-jährige Junge lag, Gesicht und Hände vollkommen verbrannt. Als Bomben auf Berlin fielen, ihre Freundin eines Morgens nicht zur Arbeit bei Siemens kam, Gerda losgeschickt worden war, um nach ihr zu sehen, und anstatt der Straße nur noch Trümmerhaufen fand, die Freundin wahrscheinlich, sie erfuhr es nie, darunter begraben. Als sie ihre beiden jüngeren Schwestern im Frühling 1945 in einem Dachbodenverschlag vor sowjetischen Soldaten versteckte, sich selbst aber nicht schützen konnte. Als ihr Sohn, „Licht meines irdischen Lebens“, mit 25 von einer Treppe stürzte und starb.

Und doch war Gott nah – zumindest ihr. „Immer fühlte ich mich von ihm behütet, getragen – obgleich dieses manchmal schwer erkämpft werden musste.“ Sie glaubte, tief und fest und seit sie sich erinnern konnte: an die Kindergottesdienste und die bunten Bildchen, die der Pfarrer verteilt hatte, an ihre Konfirmation, an Heiligabend mit Glockengeläut und brennenden Kerzen und der Krippe am Altar.

Eine frömmelnde, freudlose Protestantin wurde Gerda allerdings nie. Sie hatte eine Leidenschaft für Butter, fingerdick auf einer Scheibe Brot. Fertiggerichte kamen ihr nicht ins Haus, jeden Mittag stand sie am Herd, auch als ihre Beine sie kaum noch trugen. Sie holte das gute Porzellan für eine einzige Tasse Kaffee aus dem Schrank. Sie setzte sich ans Fenster und wartete auf die blaue Stunde. Ihren Balkon bepflanzte sie dicht mit Fuchsien und Geranien. Das Violett der Tupfen einer Bluse stimmte sie auf die Farbtöne der Jacke und des seidenen Tuches dazu ab. Sie trällerte tagein, tagaus Melodien vor sich hin. Sie hörte Mozart und las Goethe. Im Januar begann sie, ihren Geburtstag im Juni zu planen. Sie reiste. Sie plauderte mit Freundinnen. Den neuen schwarzen Fernseher ließ sie in Holz verkleiden, damit er sich nicht so deplatziert zwischen den alten Möbeln ausnahm. Sie hängte sich Monets „Sommer“ und eine Weltkarte an die Wand. Schon in den Jahren ab 1947 saß sie, so oft es ging, im Theater oder Konzertsaal.

Neben ihr saß mitunter ein britischer Offizier. Sie hatte bei den Engländern eine Stelle als Dolmetscherin gefunden. Und sie war jung. Das Fraternisierungsverbot galt nicht mehr, offiziell. Leider war die Ehefrau des Offiziers mit dessen Verbrüderungsmission nicht einverstanden. Gerda wurde dennoch schwanger. „Nu isses passiert“, kommentierte ihre Mutter die Lage und pfiff auf Nachbarschaftsgewäsch und Kirchenmoral. Sie freuten sich, ein Gottesgeschenk war dieses Kind, auch ohne anwesenden Vater.

Für ihren Job bei den Alliierten musste sie einen Entnazifizierungsantrag stellen. „Dem BDM trat ich nicht bei“, schrieb sie darin, „da mir aufgrund meiner persönlichen Beobachtungen klar war, dass ich mit dessen Grundsätzen der Jugendführung nicht übereinstimmen würde. Von frühester Kindheit streng gläubig erzogen, gab es für mich kein Leben ohne Kirche, und daher konnte ich auch nur mit Menschen zusammen sein, denen meine kirchliche Einstellung und Überzeugung kein Anlass zur Verachtung war“. Dem BDM hatte sie entgehen können, der NS-Frauenschaft nicht, was sie so begründete: „Meine Freude am Singen machte mich mit jungen Mädchen bekannt, welche 14-tägig zusammenkamen, um deutsche Volksmusik zu pflegen. Gewiss, es waren keine ausgebildeten Stimmen, aber der frohe Kreis gefiel mir gut. Ein anfängliches Fragen nach meinem Beitritt wurde nach und nach immer dringlicher und mir wurde klargemacht, dass es eigentlich Pflicht sei, organisiert zu sein. Wir hatten damals nur vorübergehend eine Führerin, und da es an Beteiligung und Räumlichkeiten mangelte, fiel der Heimabend fast immer aus.“ Und weiter: „Um mich zu bewähren, musste ich das Amt einer Blockhilfe übernehmen und hatte nun bei drei Mitgliedern die Beiträge einzukassieren.“ Dem Antrag wurde stattgegeben, sie durfte weiter bei den Briten arbeiten.

Und blieb stets von einer gewissen Arglosigkeit. Als dieser Trickdieb bei ihr klingelte, verkleidet als Klempner: „Ein Wasserschaden, Frau Pretzer, sie müssen jetzt mal in der Küche bleiben und schön den Traps festhalten“, um dann in aller Ruhe Geld und Schmuck im Nebenzimmer einzustecken. Aber sie jammerte nicht, sie dankte Gott, gesund aus der Sache herausgekommen zu sein.

Eine selbstständige Frau, alleinerziehend, immer berufstätig, zuversichtlich. Es gibt ein Foto von Gerda, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie ist noch jung darauf, steht vorsichtig lächelnd auf einer blühenden Wiese. Auf der Rückseite des Bildes ein Satz, von ihr mit Bleistift geschrieben: „Jeder geht für sich allein.“

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