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Gerhard Anger, hier auf dem Parteitag, auf dem er sich überraschend aus der Parteiführung zurückzog.

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Update

Gerhard Anger ist frustriert: Ex-Parteichef rät davon ab, die Piraten zu wählen

Gerhard Anger, Ex-Landeschef der Berliner Piraten, ist von der bisherigen Bilanz der Fraktion "immens enttäuscht" und steht kurz vor dem Parteiaustritt. Neue Details werden nun auch zu einem Vorfall aus dem April bekannt. Es geht darum, wer wen absägen wollte - oder auch nicht.

Mit drastischen Worten hat Gerhard Anger, ehemaliger Landeschef der Berliner Piraten und eine der zentralen Figuren des Landesverbands, seine Partei kritisiert. Er habe am vergangenen Sonnabend seine Austrittserklärung nur deshalb nicht in den Briefkasten geworfen, weil er zu Hause kein Papier gehabt habe, um sie auszudrucken, sagte Anger in einem Gespräch, das vor gut zwei Wochen aufgezeichnet wurde. Er fühle sich als "Lügner", weil er einst für die Piraten geworben habe, diese aber nun ihre Versprechen brechen würden.

Luft machte sich Anger in einem dreistündigen Podcast, vergleichbar einer Internet-Radiosendung. Anger diskutierte mit Fraktionschef Andreas Baum, das Parteimitglied Lars Hohl moderierte (als Audiodatei abrufbar ist der Podcast hier). Aufgezeichnet wurde die Runde vor gut zwei Wochen, im Internet veröffentlicht am Dienstag.

Dabei ging es auch noch einmal um einen Vorfall aus dem April. Der damalige Vorsitzende der Bundespartei, Sebastian Nerz, hatte seinem Unmut über Querelen in der Abgeordnetenhausfraktion in einer E-Mail an Baum Luft gemacht. In der Fraktion wurde die Mail als Ausweis eines autoritären Führungsstils, wie er bei den Piraten nicht akzeptabel sei, gewertet. Nerz selbst sagte später, ihm sei der Kragen geplatzt und die drastisch formulierte Mail würde er in gleicher Form nicht noch einmal abschicken. Damals reagierte Fraktionschef Andreas Baum mit einem offenen Brief - zu den Hintergründen des Vorgangs äußerte er sich nun im Podcast.

Fraktionskollege Christopher Lauer sei "in sein Büro geplatzt" und habe "gedroht", er werde die Mail leaken. Lauer habe gesagt: "Das muss sofort veröffentlicht werden, wir müssen sofort mit der Presse den Bundesvorsitzenden absägen." Er selbst, Baum, habe diesen Weg nicht für gut befunden. Auch zeigt sich Baum nun verwundert, dass der damalige parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Martin Delius, die E-Mail Lauer gezeigt habe, ohne diesen Schritt mit ihm abzusprechen. Schließlich, so berichtet Baum, habe man sich darauf geeinigt, mit einem offenen Brief zu reagieren. Moderator Lars Hohl kommentierte die Erzählungen Baums mit den Worten, der Bericht wirke auf ihn "wie eine Daily Soap".

Sehen Sie hier die Pannen der Berliner Piraten:

Christopher Lauer sagte dazu am Donnerstag, er habe Andreas Baum nicht gedroht. Er habe Nerz' Mail als "ziemlichen Klopper" empfunden und vorgeschlagen, die Mail zu leaken. Er sei sich "sicher", dass er das Wort "absägen" nicht benutzt habe. Auch Andreas Baum sagte dem Tagesspiegel nun, er habe sich im Podcast "nicht präzise" ausgedrückt: "Die Worte sind so nicht gefallen."

Hauptthema des Podcasts war allerdings die Unzufriedenheit Angers mit der Arbeit der Fraktion im Allgemeinen. Der Ex-Landeschef sagte: "Ich bin insbesondere angesichts der Leistung der Fraktion, die wir ins Abgeordnetenhaus gebracht haben, so ernüchtert, getroffen, so enttäuscht, immens enttäuscht, dass ich im Rückblick es nicht rechtfertigen könnte, diesen Wahlkampf zu organisieren." Er denke nun konkret darüber nach, aus der Partei auszutreten.

"Ich habe mittlerweile den Eindruck, ich habe gelogen"

Anger kritisierte vor allem, dass die Piraten ihr Versprechen von Transparenz und Basisdemokratie nicht umsetzen würden. Zum Thema Transparenz sagte er: "Ich habe mittlerweile den Eindruck, ich habe gelogen. Ich habe mit dem, was ich damals als Landesvorsitzender gesagt habe, "Wir werden unsere Arbeit transparent machen", auf ganzer Linie gelogen - weil die Personen, deren Aufgabe es gewesen ist, es dann zu tun, das aus verschiedensten Gründen nicht auf die Reihe gekriegt haben, von Perfektionismus bis zur Überarbeitung. Im Rückblick auf das Dreivierteljahr würde ich auf die Frage, sollen wir die Piraten wählen, antworten: "Nö, lassen sie's lieber bleiben."

Zur Frage der Basisdemokratie sagte Anger, man lüge sich in die Tasche, weil noch immer die Illusion gepflegt werde, alle Piraten seien gleich. Er denke aber, viele würden sich "den Arsch aufreißen", dafür aber "keine öffentliche Anerkennung bekommen" - im Gegensatz zu vermeintlichen "Chefpiraten" und "Oberpiraten".

Anger kritisierte auch, dass sich die Fraktion auf ihrer Website noch immer das Motto "still booting" gibt, sich also nach eigener Angabe noch im Startprozess befindet. "Wie lange soll dieser Bootvorgang dauern? Zwanzig Jahre? Wie lange soll es dauern, ohne dass immer wieder Ausflüchte hervorgebracht werden?", fragte Anger. Fraktionschef Baum gab daraufhin zu, die Fraktion kämpfe noch mit Problemen. Beispielsweise habe man es bisher nicht geschafft, eine einfach zu nutzende Kalendersoftware einzurichten, um die Termine der Abgeordneten transparent zu machen. Auch sagte Baum, man habe zu Beginn der Fraktionsarbeit viel zu wenige personelle Ressourcen für die Fraktions-IT eingeplant: "Wir haben in diesem Moment noch nicht einmal den Server im Abgeordnetenhaus komplett lauffähig, wobei der schon seit Monaten geliefert ist. Da ist ein Riesenstau, der im Moment einfach da ist, ich weiß nicht, wie man den auflösen kann."

Bilder des Parteitags, auf dem sich Anger aus der Parteispitze zurückzog:

Eine Anfrage des Tagesspiegels zu dem Podcast, der normalerweise nur parteiintern Aufmerksamkeit findet, ließ Gerhard Anger am Donnerstag unbeantwortet. Auf Twitter schrieb er: „Der Podcast wurde vor 16 Tagen aufgenommen. Es hat sich seither einiges getan. Ich glaube, die Lage ist nicht hoffnungslos.“ Unverständnis löste Anger offenbar bei Teilen der Abgeordnetenhausfraktion aus. Beispielsweise twitterte Martin Delius, bis vor kurzem parlamentarischer Geschäftsführer: „Na gut, dann kann ich es ja auch ,bleiben lassen‘“. Von Rene Brosig, bis April Bundesschatzmeister, wurde ein Parteiausschlussverfahren ins Gespräch gebracht. Daraufhin äußerten via Twitter aber auch zahlreiche Piraten ihre Solidarität mit dem Ex-Landeschef. Gerhard Anger war als Landeschef der Berliner Piraten einer der wichtigsten Organisatoren des erfolgreichen Wahlkampfs und parteiintern beliebt und geachtet.

Im Februar zog er auf einem Landesparteitag überraschend seine Kandidatur zur sicher geglaubten Wiederwahl zurück. Damals sagte er, er ertrage die emotionale Belastung nicht länger. Daraufhin wählten die Piraten Hartmut Semken zum Parteivorsitzenden, der allerdings bereits im Mai zurücktrat - nach einer Reihe kontroverser Äußerungen, unter anderem zur Abgrenzung gegen Rechts- und Linksextremismus, und einer Lüge gegenüber dem Landesvorstand, bei der er ertappt worden war.

In einer Reaktion auf die Äußerungen Angers hieß es bei den beiden anderen Oppositionsfraktionen, Grünen und Linke, die Piraten hätten keine Schonfrist mehr. „Es sind gewählte Volksvertreter, die sich um ihren Job als Abgeordnete kümmern müssen. Sie haben Politik für die Stadt zu machen und müssen endlich Inhalte liefern, statt sich mit sich selbst zu beschäftigten“, sagte Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop. Udo Wolf, Fraktionschef der Linken, sieht kritisch, dass sich die Piraten nur an reiner Verfahrenskritik im Parlament abarbeiten: „Dafür wird man aber nicht gewählt.“ Der Parteienforscher Oskar Niedermayer hält es für möglich, dass die Piraten nun in der Wählergunst abstürzen – auch wenn Umfragen ihnen bisher erfreuliche Ergebnisse erbrachten. Es dauere, bis die Wähler realisierten, dass auch die Piraten „nur mit Wasser kochen“, sagt der Forscher. Er denke aber, dass die Umfragewerte noch vor der Bundestagswahl einbrechen werden.

Ohnehin sind viele Piraten sauer - weil sie von einer Fraktionsklausur nur aus der Zeitung erfuhren

Die Äußerungen Angers kommen zu einer Zeit, in der die Berliner Piraten ohnehin das Thema Transparenz und die Bilanz der bisherigen Fraktionsarbeit diskutieren. Nachdem die Abgeordnetenhausfraktion vergangene Woche wie berichtet hinter verschlossenen Türen getagt hatte, wird debattiert, ob damit das eigene Transparenzgebot verletzt wurde und wo die Forderung nach totaler Öffentlichkeit auch ihre Grenzen haben darf.

"Es ist eine Gratwanderung", sagt Piraten-Bundessprecherin Anita Möllering. Einerseits sollten alle Themen von öffentlichem Interesse auch öffentlich verhandelt werden. Andererseits sei es gerade bei persönlichen Konflikten zwischen einzelnen Funktionären nötig, diese nicht in der Öffentlichkeit auszutragen, um eine Lösung zu finden. "Das sind Prozesse, die sich erst einspielen müssen", sagt sie. Eine generelle Abkehr ihrer Partei vom Transparenzprinzip im Angesicht der wachsenden politischen Verantwortung sieht sie aber nicht. Dafür spreche zum Beispiel der kürzlich gefasste Beschluss der Bundespartei, die bislang via nur für Mitglieder zugänglicher E-Mail-Listen geführte Debatte über die Pressearbeit zu öffnen: In den nächsten Wochen soll sich jeder Interessierte für diese Mailinglisten anmelden und die Inhalte verfolgen können.

Die Debatte kochte in der Partei auch deswegen so hoch, weil viele Parteimitglieder erst durch die Berichterstattung des Tagesspiegels erfahren hatten, dass sich die Piratenfraktion zur Klausur nach Potsdam zurückgezogen hatte. Auf einer Mailingliste, über die interessierte Berliner Piraten (aber grundsätzlich auch Nicht-Mitglieder) Nachrichten austauschen, entspann sich daraufhin eine Debatte. "Transparenz ist eine tolle Sache, wenn man sie nur fordern, aber nicht umsetzen muss. Im letzten Fall merkt man nämlich ziemlich schnell, dass es nicht so einfach ist, seine Informationshoheit zu teilen. Und im übrigen auch taktisch bei gewissen Fragen ziemlich dumm", schrieb ein Diskutant. Ein weiterer befand: "Die treffen sich ja dort nicht in privatem Rahmen, sondern in einer bestimmten Funktion. Und genau in dieser sollten sie, so war die Abmachung, Transparenz walten lassen: Videomitschnitt an und ab ins Netz! Alles andere empfinde ich als BETRUG!" Andere zeigten sich verständnisvoll; in Klausur zu gehen, sei "normal und wichtig", schrieb ein Pirat, ein weiterer fand: "Es muss nun wirklich nicht jedes Wort 1 zu 1 und live ins Netz, um Transparenz herzustellen."

Diese 15 Piraten sitzen im Abgeordnetenhaus:

In die Diskussion schaltete sich – mit fragwürdiger Wortwahl – auch Oliver Höfinghoff, Mitglied des Abgeordnetenhauses, ein: "Hier immer wieder den (immer noch nicht durchdeklinierten) Begriff ,Transparenz‘ bis zur Vergasung zu benutzen, bis er am Ende nichts mehr bedeutet, bringt euch und uns überhaupt nichts." Allerdings gab es von Seiten der Parteimitglieder durchaus konkrete Kritik. So schrieb ein Pirat: "Wenn es darum geht, wer nicht mehr in einem Ausschuss arbeiten soll und durch jemand anderen ersetzt wird, dann möchte ich schon wissen, warum. ... Wir, die wir angetreten sind, uns gerade in solchen wesentlichen Fragen von anderen Parteien zu unterscheiden, machen es nicht anders."
Auf einer öffentlichen Sitzung nach Ende der mehrtägigen Klausur hatte die Fraktion eine neue Führung gewählt, was allerdings am Rande der Sitzung als "abgekartetes Spiel" bezeichnet wurde. Auch wurde der Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner aus dem Hauptausschuss, dem einflussreichsten Ausschuss des Abgeordnetenhauses, abgezogen. Dem Tagesspiegel sagte Claus-Brunner, er fühle sich als "Sündenbock".
Der auf der Klausur neu gewählte Piraten-Fraktionschef Christopher Lauer verteidigte am Mittwoch den Ausschluss von Parteibasis und Öffentlichkeit bei Diskussionen über Personalfragen. "Wir brauchen auch in Zukunft geschlossene Räume, um Entscheidungen zu treffen, mit denen wir leben können", sagt er. Man habe auf der nichtöffentlichen Tagung ja nicht "den Untergang des Abendlandes" beschlossen, sondern über die Umstrukturierung von Ausschüssen und der Fraktionsführung gesprochen. Da gehe es auch um sehr persönliche Aspekte, deren Veröffentlichung nicht unbedingt mehr politische Transparenz bedeute. Dass man es damit nach wie vor sehr ernst nehme, zeige das Projekt des "gläsernen Abgeordneten", bei dem Lauer und andere Parlamentarier unter anderem so weit wie möglich offenlegen wollen, mit wem sie wann worüber politische Gespräche geführt haben. Parallel dazu müssten Fraktion und Partei für sich erst noch "durchdeklinieren", was Transparenz in der Praxis bedeutet und wo sie ihren Grenzen finden sollte.

"Im Moment versteht bei uns noch jeder etwas anderes unter Transparenz", sagt Enno Park, der als Landesschatzmeister auch Mitglied im Landesvorstand der Berliner Piraten ist. Aus seiner Sicht sollte das oberste Ziel sein, die politische Arbeit für jeden Interessierten "nachvollziehbar" zu machen – einschließlich der Frage, wer aus welchen Gründen in wichtigen Ausschüssen nicht mehr vertreten ist. Das sei bei der Fraktionsklausur "suboptimal" gelaufen. Allerdings sei auch nicht jede Forderung nach Transparenz zumutbar: Schon aus Zeitgründen könne man "nicht jedes einzelne Telefont samt aller besprochenen Inhalte auflisten", sagt er. "Wir stehen weiterhin für Transparenz", ist sich Park dennoch sicher – "aber jetzt müssen wir auch liefern." So treibe den Landesvorstand derzeit die Frage um, wie man damit umgeht, dass ein wöchentlicher Jour Fixe der Parteispitze, bei dem es neben Politischem auch um das persönliche Kennenlernen gehe, bislang nicht öffentlich stattfindet. Das missfiel manchen Mitgliedern. Nun soll am kommenden Dienstag entschieden werden, ob auch dieses Treffen künftig öffentlich dokumentiert werden soll.

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