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Berlin: Gerhard Zieps (Geb. 1936)

Er sah erwachsen aus, groß und schlank, ganz normal.

Der 64er fuhr immer direkt in den Zoo. Eine Buslinie wie geschaffen für Gerhard. Erst sah er den Menschen zu, wie sie in ihren Blechkäfigen saßen oder an den Haltestellen dösten. Danach den Tieren.

Ein Tag mit Busfahren und Zoobesuch war ein rundum gelungener. In späteren Jahren fuhr Gerhard auch nur mal so Bus, von A nach B, ganz ohne Tiere. Das ging auch in Ordnung, so lange es in der Nähe von B eine Würstchenbude gab, eine wie im Zoo. Ein Tag ohne Würstchen konnte nicht rundum gelingen.

Für den Zoo hatten Gerhard und seine Mutter eine Jahreskarte, Busfahren durften sie umsonst. Ein Leben lang. Gerhard hatte einen Ausweis, auf dem „schwerbehindert“ stand. Er sah erwachsen aus, groß und schlank, ganz normal. Seine Pullover waren vielleicht etwas bunter als bei anderen Männern seines Alters. Sie passten zum Kind, das in seinem Kopf steckte, ein ganz kleines Kind, das nicht erwachsen werden konnte.

Wenn er mit seiner Mutter zum Einkaufen ging, tuschelten die Nachbarn hinter seinem Rücken, sie sagten „schlimm“ oder „wäre besser vergast worden“. Doch Gerhard wusste nichts von der Grausamkeit dieser Worte und ihrer Urheber. Das war in der Zeit nach dem Krieg, den Bomben und dem großen Hunger. Gerhard hatte alles erlebt, ohne davon erzählen zu können.

Ein Jahr nach seiner Geburt wurde er ins Krankenhaus gebracht. Das Fieber ging nicht mehr weg. Hirnhautentzündung. Die Kinderärztin machte ein ernstes Gesicht und schrieb ohne Umschweife das Wort „schwachsinnig“ auf einen amtlichen Bogen. Man könne das Kind in eine Anstalt einweisen, sagte sie, „aber wenn Sie das Kind weggeben, kriegen sie es nicht mehr wieder.“

Gerhard blieb bei seiner Mutter. Den Vater mussten sie weggeben, und sie kriegten ihn nicht mehr zurück. Er starb in russischer Gefangenschaft. Lange Jahre hoffte die Mutter, legte Patiencen, und wenn sie aufgingen, dachte sie, er werde doch noch kommen. In Gerhards Welt blieben vom Vater nur die Spielkarten, die Buben und Könige, die seine Mutter auf dem Tisch hin und her schob. Gerhard machte es ihr nach, schob die Karten hin und her, auch später noch, als seine Mutter längst gestorben war, und auch nach dem Tod von Inge, seiner großen Schwester, die sich um ihn gekümmert hatte. Die Spielkarten, da konnte er sicher sein, würden ihn nicht verlassen. Manchmal küsste er sie zärtlich, eine nach der anderen, vom Herzbuben bis zur Pikdame.

„Gerdi“ sagten sie zu ihm in der Familie, klopften ihm auf die Schulter und lächelten. Gerdi war immer dabei, wenn es etwas zu feiern gab. Er lernte die Bedeutung des Wortes „Prost“, trank gerne ein Sektchen mit und rauchte eine Zigarette.

In den achtziger Jahren, nach dem Tod der Mutter, musste Gerhard doch noch ins Heim, aber es gab für ihn keinen Platz. Erwachsene, die sich wie kleine Kinder verhielten, kamen damals in die Psychiatrie, aber die Familie entschied, dass Gerhard da nicht hin sollte. Also ging Inge in die Sprechstunde des Regierenden Bürgermeisters und erreichte, dass die Caritas eine Wohngruppe aufmachte, in die ihr Bruder einziehen konnte. Gerhard wurde zu einem Pionier der Integration.

In der Wohngruppe war er, nach Jahren gemessen, der Älteste der acht und bald sehr angesehen, auch wenn die meisten Mitbewohner auf ihn schimpften. Er hatte einen Dickkopf und erreichte meistens, was er wollte. Nachts schlich er durch den Flur und brüllte Kraftausdrücke in jedes Zimmer, um anschließend die Türen zuzuknallen. Alle wachten auf und beschwerten sich. Gerhard ging erst zu Bett, wenn er warme Honigmilch und Kekse bekam. Seine Lieblingsbetreuerin taufte ihn „Tiger“. Er schnurrte, wenn man ihn am Nacken kraulte. Er konnte auch charmant sein und Komplimente machen, wenn die Frauen im Sommer kurze Röcke trugen. „Hui“, sagte er dann. Oder „liebe Zeit“.

Seine Schwester brachte ihm Plüschtiere und Bilderbücher mit, aber wenn sie wieder weg war, warf Gerhard alles aus dem Fenster. Er wollte nichts bei sich haben außer seinen Spielkarten.

Mitten im Sommer sang er „O Tannenbaum“, manchmal stundenlang. Wenn er denn da war, der Tannenbaum, zur rechten Zeit im Winter, geschmückt und leuchtend, musste Gerhard jedes Mal lange weinen. Er war kaum zu trösten.

Wenn er Würstchen oder Möhren aß, tat er so, als würde er sie rauchen. Er rauchte auch Salzstangen oder Schokoladenzigaretten. Um an Kekse und Süßigkeiten zu kommen, die im obersten Regal versteckt waren, stellte er zwei Stühle aufeinander.

Auf der jährlichen Gruppenfahrt durfte Gerhard mit seiner Lieblingsbetreuerin in einem Zimmer schlafen. Das verhinderte die nächtlichen Ruhestörungen. Gerhard stand auf, ging aber nur bis zum Bett der Betreuerin und schaute sie schweigend an. Bis sie aufwachte und mahnte: „Schlafen, Gerdi!“

Besondere Talente wie seine Mitbewohner entwickelte er nicht. Ihm lag nicht viel am Malen oder Basteln. Busfahren wollte er, nur Busfahren.

Höchstens 60 könnte er werden, hatten die Ärzte gesagt, rein organisch betrachtet. Sie hatten den Willen nicht einkalkuliert. Gerhard fand sein Leben ziemlich lebenswert und ahnte auch gar nicht, dass es mal an ein Ende stoßen könnte, das man Tod nennt. Was sie mit ihm machten, die Herz-OP und die Medikamente, konnte ihm niemand erklären. Es passierte einfach, und Gerhard wachte auf und schlief wieder ein, ohne Argwohn. Thomas Loy

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